-19- Zermalmung

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Ich erwachte mit dem Rascheln von Gepäck und öffnete die Augen. Es war dämmrig im Raum und durch das Fenster strahlten die ersten orangeroten Lichter der frühen Morgensonne. Matt rieb ich mir über die Augen und setzte mich im Bett auf. Ich entdeckte Fili und Kili, die in ihren Reisetaschen wühlten. Mein Blick huschte zu Thorins Bett, das leer war und nahezu unangerührt wirkte. Seine Habseligkeiten schien er ebenso mitgenommen zu haben, genau wie jegliche Spuren, die seinen Aufenthalt verrieten.
,,Wollen wir schon aufbrechen?", fragte ich mit kratziger Stimme und beide Brüder sahen zu mir.
,,Ja, Thorin möchte schnellstmöglich unsere Reise fortsetzen und keinen Tag mehr vergeuden", meinte Kili und schwang sich das Reisegepäck über die Schulter. Stumm nickte ich und schob die Bettdecke zur Seite. Ich stand auf und machte mein Bett, dabei musste ich zugeben, dass ich etwas enttäuscht davon war, schon aufzubrechen, denn ich hätte gerne mehr Zeit in Bruchtal verbracht. Als ich fertig war, verstaute ich meine eigenen Siebensachen in meinem Rucksack und fuhr mir kurz mit dem Kamm durch die Locken, denn so viel Zeit musste sein. Anschließend zog ich mir meine Jacke über und knöpfte sie sorgfältig zu.
,,Sag mal, Bilbo, warum hast du gestern so einen großen Abstand zu uns gehalten?", fragte Fili unmittelbar und ich sah zu ihm. Er warf mir einen anschuldigenden Blick zu. Mir fiel keine anständige Antwort, ohne den richtigen Grund zu nennen ein, weshalb ich unbeholfen schwieg. Fili musterte mich und mein Schweigen.
,,War es wegen unserer... Badeorgie?", fragte er und bei der Wortwahl runzelte ich die Stirn. Eine Orgie? Kein Wunder, dass sie sich die Kleider vom Leibe gerissen haben. Hätte ich vorher gewusst, dass die so etwas öfter veranstalten, hätte ich mir zweimal überlegt, mit auf diese Reise zu kommen. Fili hob eine Augenbraue und ich schnürte meinen Rucksack zu.
,,Vielleicht?", meinte ich nur und hoffte das Gespräch damit beenden zu können.
,,Findest du Nacktheit bedrückend?", fiel er mit der Tür ins Schloss. Ich wollte die Augen rollen, denn ich verstand nicht, weshalb er mich nicht einfach in Ruhe lassen konnte. Ich fummelte an dem Verschluss meines Rucksacks herum und bekam ihn nur mit Mühe zu.
,,Nun, wir alle kennen uns erst seit knapp einer Woche. Euch dann ... unbedeckt zu sehen, war wahrlich mehr als ich wollte. Und dann habt ihr auch noch von mir erwartet, dass ich mich ebenso entkleide", erklärte ich mein ausweichendes Auftreten und Kili grinste in sich hinein. Fili wirkte unüberzeugt und ließ seinen Rucksack sinken.
,,Dachtest du, wir würden dich beurteilen oder was?", fragte er in einem verwirrten Ton und ich schluckte. Das geht jetzt wirklich in die falsche Richtung. Ich legte mir den Rucksack um und zog die Schnüren fest, meinen Blick hielt ich auf meine Hände.
,,Fili, ich bin ganz ehrlich, mir ist das nicht geheuer, aus welchen Gründen auch immer. Ich weiß nicht, wie das bei euch Zwergen ist und ihr vielleicht gemeinsames wöchentliches Baden veranstaltet, doch ich mache so etwas nicht", gab ich mit leicht aufbrausender Stimmlage wieder und sah abwartend zu ihm. Auf seinem Gesicht lag ein unheilvolles Grinsen und das machte mich noch verärgerter.
,,Warum grinst du jetzt?", fuhr ich ihn rasend an. Er lachte leise und ging einen Schritt auf mich zu.
,,Bilbo, du bist einfach verklemmt", behauptete er unverschämt und zwinkerte mir wissend zu. Empört zog ich die Augenbrauen zusammen und sah ihn finster an.
,,Verklemmt? Verzeih mir, wenn ich mich nicht vor einer Schar nackter Zwerge entkleide und mit ihnen ins Wasser springe! Wärt ihr beiden an meiner Stelle gewesen, hättet ihr das auch nicht getan!", rief ich aus und funkelte ihn an. Nun lachte Kili und ich sah unbegeistert zu ihm. Mit vergnügter Stimme meldete er sich zu Wort:
,,Warum denn nicht, ich habe ja nichts zu verbergen! Im Gegensatz zu dir, anscheinend." Mir klappte der Mund auf und ich schloss ihn schnell wieder. Ich merkte, wie mein Herz unruhig stärker zu pochen begann.
,,W-was soll ich denn zu verbergen haben?", fragte ich unverständlich. Wollten wir nicht aufbrechen? Könnten wir jetzt mal losgehen?, hoffte ich, denn ich wollte diesem unangenehmen Verhör entfliehen.
,,Weiß ich nicht, erzähl du es mir", sagte Kili feixend und kam langsam einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück und stieß gegen die Bettkante.
,,Was ... machst du?", flüsterte ich. Sein frevelhaftes Grinsen machte mir ein wenig Angst.
,,Etwas nachprüfen", antwortete er quietschvernügt und streckte plötzlich die Hände nach mir aus. Meine Augen weiteren sich und sprang an ihm vorbei. Ich griff schnell nach meinem Wanderstock und stürmte zur Zimmertür, stieß sie auf und lief den Flur entlang. Was zum Henker. Die beiden Brüder sind völlig geistlos. Als ich die Tür zum Haus aufriss, stieß ich schon wieder fast mir Lindir zusammen. Er ging resigniert einen Schritt zurück und sah mich an.
,,Ich glaube, ich sollte ein wenig Abstand zur Tür halten", schlussfolgerte er in einem Murmelton. Statt darauf einzugehen, sah ich mich hektisch um und stellte mich ganz in seine Nähe.
,,Versteck mich bloß vor Fili und Kili, die beiden sind verrückt! Sie dürfen mich nicht sehen!", rief ich angespannt und zog an dem Ärmel des Elben. Ihm schien es nicht zu stören, doch er sah mich prüfend an.
,,Herr Beutlin, eure Gefährten Fili und Kili wirkten für mich bisher am vernünftigsten", fand er mit aufrichtiger Stimme. Ich schüttelte energisch den Kopf und zog Lindir mit mir hinter die Hauswand. Als wir gerade an der Ecke verschwanden, schwang die Tür des Hauses auf. Ich huschte hinter die Wand und lugte vorbei. Fili und Kili, gefolgt von den anderen Zwergen, traten aus dem Haus und erblickten mich glücklicher Weise nicht. Kili war breit am Lächeln und wirkte fröhlich, während Fili einen unseligen Ausdruck im Gesicht hatte. Ha! Geschieht dir recht. Nächstes Mal lässt du mich besser in Ruhe, fand ich. Die Zwerge stellten sich in einer Reihe auf und ich wusste, ich müsste mich nun zu ihnen gesellen. Ach, wie gerne ich noch länger hier geblieben wäre... Es ist so schön hier. So schön still und farbenfroh. Am liebsten würde ich nie fortgehen. Doch es gibt Gründe, weshalb ich das tun muss. Meine Gedanken endeten und ich drehte mich zu Lindir. Er nahm meinen Blick auf und sah mich mit einem erwartenden Lächeln an.
,,Nun... mach es gut, Lindir. Das nächste Mal sehen wir uns hoffentlich im Auenland", sagte ich und eine leichte Unsicherheit schwang bei meinen Worten mit. Lindirs Lächeln erstarrte und er sah mich verwirrt an.
,,Ihr verlasst uns schon? Zu solcher Stunde? Aber Herr Elrond ist nicht davon unterrichtet!", erwiderte er und nun legte auch ich die Stirn in Falten.
,,Wieso muss er davon wissen?", fragte ich irritiert nach. Lindir setzte einen eilenden Gesichtsausdruck auf und sah über seine Schulter hinweg. Ich folgte seinem Blick, da sah er wieder zu mir.
,,Tut mir leid, doch ich muss eilen. Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Bilbo Beutlin, und ich werde dich ganz sicher nach deiner Reise besuchen", sagte er und schenkte mir sein herzlichstes Lächeln. Ich erwiderte es und zum Abschied verbeugte sich Lindir leicht. Dabei legte er seine Hand auf sein Herz, wie bei der Begrüßung mit Gandalf und ich lächelte ihn glückselig an.
,,Bis bald", gab ich zurück und neigte auch meinen Kopf zu einer kleinen Verbeugung. Lindir nickte mir dankend zu und drehte sich nach einem letzten behutsamen Blick auf mir um. Ich sah ihm hinterher, wie er mit lautlosen Schritten an der rechten Seite des Brunnens vorbeiging und hinter dem Stamm des großen Ahornbaumes verschwand. Ich atmete tief ein und lächelte besonnen. Wir werden uns wiedersehen. Ganz sicher.
,,Sind wir vollzählig?", ertönte die dunkle Stimme von Thorin und ich sah wieder an der Hausecke vorbei. Er trat aus dem entgegen gerichteten Pfad ein und war vollends mit Mantel, Schwertern und Rucksack ausgerüstet. Dem Anschein nach hatte er schon einen Blick auf unseren Rückweg gerichtet und wollte den Rest nun abholen. Die Zwerge gingen auf ihn zu und Thorin blieb prüfend vor ihnen stehen.
,,Bilbo fehlt!", meinte Fili bedrückt. Thorin sah zu ihm und zu meinem Bedauern legte sich ein gleichgültiger Ausdruck über sein Gesicht. Wieso? Was habe ich jetzt schon wieder angestellt?, fragte ich mich und fühlte mich sogleich schlecht. Thorin verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah seinen bestürzten Neffen unwirsch an.
,,Der scheint seine Gefährten in den Elben gefunden zu haben, also wundere dich nicht, falls er nicht mehr auftaucht", gab er bitter von sich und sah von ihm ab. Fili blickte mit einem zwiegespaltenen Ausdruck umher und senkte trüb den Blick. Thorins schneidende Worten trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube und ich sah auf meine Füße herab. Obwohl sich alles in mir dagegen wehrte, trat ich einen Schritt an der Hauswand vorbei. Vertrag ist Vertrag, redete ich mir ein.
,,Ich bin hier!", rief ich und ging auf sie zu. Dabei tat ich so, als müsste ich mir die Jacke zuknöpfen, um von meiner Angespanntheit abzulenken. Thorin bemerkte mich sofort und nahm abschätzig den Blick von mir. Mit knurrender Stimme befahl er den Zwergen, loszugehen und ging als Erster voran. Unsicher folgte ich ihnen und bildete die letzte Reihe der Schar. Wir gingen einen sandsteinernen Pfad entlang und marschierten an der schmalen Felskante eines Berges hinauf. Ich drückte meinen Wanderstock in den Boden und drehte mich ein letztes Mal zu dem atemberaubenden Reich der Elben um, bevor es hinter den Gesteinen des Berges verschwand. Verträumt sah ich über die Wasserfälle, die Brücken, die Häuser, die Blumen, die Springbrunnen, die Lichtungen. Ich schloss die Augen und atmete tief die wunderbar wärmende Luft ein. Meine Ohren vernahmen wieder die Stimme des Zwergenkönigs und ich lauschte seinen Worten.
,,Seid auf der Hut, wir übertreten bald den Rand der Wildnis. Balin, du kennst diese Wege, geh voran." Aus seiner Stimme konnte ich einen zusprechenden Tonfall heraushören.
,,Aye!", machte Balin und ich hörte das Geräusch einer Axt, die in den Stein gestoßen wurde. Es folgte eine Stille und ich hörte nur das Rauschen des Windes und das Knirschen des Bodens unter den Schuhen der Zwerge. Es war so schön hier und ich wollte nicht gehen. Wollte nicht wieder den Gefahren der Wildnis ausgesetzt werden, wollte stattdessen in der Sonne liegen und dem Plätschern der Wasserfälle zuhören. Wer wusste schon, ob es beim nächsten Mal wieder einen Radagast gäbe, der uns die Orks und Wargs vom Halse hielt. Ich wagte zu bezweifeln, dass wir erneut so viel Glück haben werden.
,,Beutlin." Ich öffnete die Augen und drehte mich zu der forschen Stimme um. Thorin stand nahe an der Klippe des Bergpfads und lehnte beide Hände auf den eisernen Kopf seiner Axt. Er begutachtete mich von oben bis unten und ich merkte, wie ich unruhig wurde. Auch das Lächeln, das sich auf meinen Lippen befand, schwand bei seinem harten Ausdruck.
,,Ich würde dir raten, dich lieber zu sputen", wies er mich zurecht und wartete meine Reaktion an. Ich senkte den Blick und ließ ihn verabschiedend über Bruchtal schweifen. Dieser Ort ist bisher das Beste, was mir je passiert ist. Und das liegt weniger an den Elben, sondern viel mehr an meinen Gefährten, die mir den Aufenthalt zu mancher Zeit verschönert haben, indem sie einfach so waren, wie sie nunmal sind. Zwar war die Sache mit dem Brunnen ein traumatisches Erlebnis für mich, doch abgesehen davon hatte ich hier viel Spaß. Vielleicht lag das aber auch nur an einem einzigen der Gefährten. Trotz seiner abgeneigten Haltung kann ich nicht vergessen, was gestern und vorgestern hier passiert war. Als er am ersten Abend seinen Flachmann mit mir geteilt hat, zum Beispiel. Als er mir am Brunnen etwas von sich gezeigt hat und unbekannte Gefühle in mir aufkamen. Als er sich am gestrigen Abend dafür entschuldigte und mir sein ehrlichstes Lächeln schenkte. Ich schluckte. Meine Ohren spitzten sich bei dem schabenden Geräusch von Metall auf Stein und ich wandte mich von dem Anblick ab. Thorin hatte sich umgedreht und stieg wieder den Pfad hinauf. Ich stützte mich mit meinem Wanderstock ab und folgte ihm.

King Under The Moantain | bagginshieldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt