# 4

5.7K 273 9
                                    

- Lola -

"Das muss auch mit!"
Überrascht schaue ich von Dannys Kindergartenrucksack auf, in den ich gerade die Polizeiauto-Brotdose und eine Wasserflasche gestopft habe und blicke geradewegs in das Gesicht meines kleinen Bruders.
Mit einem breiten Milchzahnlächeln schaut Danny mich aus seinen braunen Augen an.
Dadurch, dass ich mich hingehockt habe, um den Rucksack zu befüllen, sind wir direkt auf Augenhöhe. Sonst reicht er mir mit seinen fünf Jahren nicht mal bis zur Hüfte.
Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass er mir auffordernd sein Lieblingsspielzeugauto entgegenstreckt. Das feuerrote Rennauto mit den Flammen an den Kotflügeln.
Ich muss grinsen.
"Hast wohl heute noch ein wichtiges Rennen, was?", frage ich und öffne wieder die Schnalle des Rucksacks, während Danny heftig nickt.
"Timo und Ben glauben mir nicht, dass ich das schnellste Auto der Welt habe. Darum machen wir heute ein Rennen."
"Verstehe", sage ich und nehme Danny das Auto aus der Hand, bevor es zwischen meinen Fingern drehe, "also, gegen dieses Auto haben deine Freunde keine Chance."
Danny grinst noch breiter und ich zwinkere ihm zu, bevor ich das Auto in dem Rucksack verstaue und ihn wieder schloss.
Als ich wieder aufschaue, sehe ich, wie Danny sich unter seinem T-Shirt am Rücken kratzt.
"Juckt es schon wieder."
Danny nickt und schiebt die Unterlippe vor. "Wann geht das endlich weg?"
"Bald. Aber du darfst nicht kratzen."
"Aber es juckt."
"Ich weiß." Ich streiche ihm über seine blonden Locken und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. "Darum gehen wir auch heute Nachmittag wieder zum Arzt, damit er dir nochmal diese Creme verschreibt. Die hilft dir."
"Und dann geht das ganz bald weg?"
Ich muss lächeln, als Danny mich fragend aus seinen großen braunen Augen anschaut.
"Versprochen."
Daraufhin grinst Danny mich wieder an und schlingt seine kurzen Ärmchen um meinen Nacken, als er mich umarmt. Ich erwidere seine Umarmung und passe auf, dass ich dabei nicht die Stellen an seinem Rücken berühre, an denen er seinen Ausschlag hat.
"Ich hab dich lieb, Lola!"
"Ich dich auch, Großer." Dann löse ich mich wieder aus unserer Umarmung und halte ihm seinen Rucksack hin. "Also, jetzt müssten wir aber wirklich los! Zieh dir schon mal die Schuhe und die Jacke an. Ich komme dann gleich auch."
"Okay."
Danny nimmt mir den Rucksack ab und tapst in den Flur, wodurch ich sehe, dass unter einem seiner Socken ein Loch ist.
Seufzend richte ich mich auf und lasse meinen Blick durch die Küche gleiten. Auf der Spüle sammelt sich das dreckige Geschirr, der Mülleimer muss geleert werden, die Dunstabzugshaube ist verklebt, der Aschenbecher auf der Fensterbank quillt über und der Boden muss dringend mal wieder gewischt werden.
Kopfschüttelnd gehe ich zum Kühlschrank und ziehe die Kühlschranktür auf, die gefährlich wackelt.
"Was für eine Auswahl", murmle ich und seufze erneut.
Zwei Äpfel. Eine angefangene Packung mit Käse. Ein paar Eier. Eine halbe Flasche Ketchup. Und eine Schüssel mit gekochten Nudeln, die gestern vom Abendessen übrig geblieben waren. Das war's.
"Sieht so aus, als müssten wir nach dem Arztbesuch noch einkaufen", murmle ich weiter und stecke mir einen der Äpfel in die Tasche meiner Lederjacke.
Dann schließe ich die Kühlschranktür wieder und greife auf dem Tisch nach der Kaffeedose, die neben einer halben Brotpackung steht. Mit einer geschickten Bewegung öffne ich die Dose und schütte den Inhalt auf dem Tisch aus. Es dauert nicht lange, bis ich die Münzen und Scheine gezählt habe. 28,73€.
Und wir haben erst Mitte des Monats.
Nacheinander stecke ich erst die Scheine und dann die Münzen in meine Hosentasche. Ich muss Xenia am Freitag unbedingt fragen, ob sie mir einen Vorschuss zahlen kann. Mal wieder.
"Lola? Wo bleibst du denn?"
Ich sehe, wie Danny wieder den Kopf in die Küche steckt und muss lächeln, als ich sehe, dass er die Schnürsenkel seiner Schuhe nur geknotet, aber keine Schleife gebunden hat.
"Bin schon da, Großer", sage ich und gehe zu ihm, bevor ich mich hinknie und zwei Schleifen binde. Dann stehe ich wieder auf und greife nach meiner Tasche, die neben dem Tisch liegt. "Also, auf geht's!"
Auf dem Weg zur Tür kommen wir an Mamas Schlafzimmer vorbei, dessen Zimmertür einen Spalt breit offen steht. Eilig schiebe ich Danny daran vorbei und erhasche selber nur einen kurzen Blick in das Zimmer. Doch es reicht aus, um zu sehen, wie meine Mutter mit über den Kopf gezogener Decke in ihrem Bett liegt. Lediglich vereinzelte blonde Haarsträhnen schauen darunter hervor.
Ich weiß nicht, ob sie wach ist oder schläft und um ehrlich zu sein ist es mir auch ziemlich egal. Sie bleibt eh den ganzen Tag nur in ihrem abgedunkelten Zimmer im Bett liegen und kommt nur raus, wenn sie ins Bad muss. Oder wenn sie Alkohol braucht.
Ich habe erst vor ein paar Tagen gemerkt, dass sie wieder mit dem Trinken angefangen hat. Und das auch nur, weil ich eine leere Wodkaflasche im Mülleimer gefunden habe.
Ich weiß nicht, was mich wütender macht. Die Tatsache, dass sie wieder mit dem Trinken angefangen hat oder dass ihr mittlerweile alles so dermaßen egal ist, dass sie nicht mal versucht, es zu verstecken. Zumal der Alkohol ihrem mentalen Zustand schadet und ihn nicht entlastet, wie sie immer behauptet.
Ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt und presse meine Zähne fest aufeinander, als ich ohne jede Rücksicht beim Rausgehen die Wohnungstür mit einem kräftigen Knall hinter mir zu ziehe.
Ich habe jetzt keine Zeit, um mich darauf zu konzentrieren.
Ich muss Danny zum Kindergarten und zum Arzt bringen. Ich muss einkaufen. Und ich muss auch in diese gottverdammte Schule. Da kann ich mich nicht auch noch um das verkorkste Leben meiner Mutter kümmern.

- Zoe -

Ich atme tief durch, während ich mich im Autorückspiegel betrachte und mir ein paar letzte Haarsträhnen aus dem Gesicht streife.
Es ist zwar nicht die erste Schule, an der ich als neue Lehrerin anfange, aber ich kann nicht bestreiten, dass ich nicht trotzdem ein wenig nervös bin. Aber das ist bestimmt auch ganz normal. Hoffe ich zumindest.
Nach einem letzten prüfenden Blick straffe ich meine Schultern, greife nach meiner Tasche auf dem Beifahrersitz und steige aus meinem Auto aus, das ich auf dem Lehrerparkplatz geparkt habe.
Zu meiner Überraschung war das Auto von Herrn Lüdenscheid nicht mehr da. Wahrscheinlich war es gestern Nachmittag noch abgeschleppt worden.
Nachdem ich mein Auto mit einem Knopfdruck auf den Funkschlüssel abgeschlossen habe, ziehe ich meine Tasche über die Schulter und gehe in Richtung des Schulgebäudes. Dabei werfe ich noch einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr.
In einer Viertelstunde etwa würde die zweite Stunde und damit mein erster Arbeitstag beginnen.
Zufrieden ziehe ich den Ärmel meines Blazers wieder ordentlich über mein Handgelenk und damit auch wieder über meine Armbanduhr.
Als ich jedoch aufschaue, heben sich meine Augenbrauen vor Erstaunen, als ich sehe, wie Lola auf der anderen Straßenseite zum Schulgebäude stapft.
Sie bemerkt mich nicht, da sie ein gutes Stück vor mir geht. Aber so gemächlich, wie sie geht und dabei ihre Zigarette raucht, würde ich sie sehr schnell eingeholt haben.
Entschlossen wechsle ich die Straßenseite und beschleunige meine Schritte. So viel zum Thema, dass sie heute schwänzen würde. Wobei ich wiederum aber auch bezweifle, dass sie wie ich erst zur zweiten Stunde Unterricht hat.
Das klackende Geräusch meiner Absätze muss mich verraten haben, denn mit einem Mal dreht Lola sich um und verzieht das Gesicht, als sie mich sieht.
"Oh nee", murmelt sie und wirft die halbgerauchte Zigarette auf den Boden, um sie kurz darauf auszutreten und sich wieder wegzudrehen.
"Lola!", rufe ich und beschleunige meine Schritte noch mehr, "würdest du bitte warten?"
Zuerst geht Lola einfach weiter, so als hätte sie mich nicht gehört, doch dann sehe ich, wie sich ihre Schritte verlangsamen, bis sie schließlich stehen bleibt und sich nach einem tiefen Seufzer zu mir umdreht.
"Was ist?", fragt sie genervt und schaut mich mit verschränkten Armen an, als ich ein paar Schritte vor ihr stehen bleibe.
"Dir auch einen guten Morgen."
"Ihren guten Morgen können Sie sich schenken. Was wollen Sie?"
Ich hebe die Augenbrauen über ihren trotzigen Tonfall, bleibe aber ruhig. Lola wartet ja nur darauf, dass mir ein unvorsichtiger Kommentar herausrutscht.
"Ich würde gerne wissen, warum du gestern vom Nachsitzen verschwunden bist."
Lola zuckt mit den Schultern. "Mir war langweilig."
"Und da haust du einfach durchs Fenster ab?"
"Durch die Tür wäre ja nicht so schlau gewesen."
Ich blinzle kurz und schüttele dann den Kopf über ihre Bemerkung.
"Es geht hier ums Prinzip, Lola. Du kannst nicht einfach vom Nachsitzen verschwinden."
"Und wieso nicht?"
Langsam steigt Wut in mir auf und ich sehe an Lolas Blick, dass es ihr genauso geht.
"Das muss ich dir nicht wirklich erklären, oder?", frage ich und schaue sie prüfend an, "du bist in deinem letzten Schuljahr und solltest die mit der Schule einhergehenden Regeln und das damit verbundene angebrachte Verhalten inzwischen mehr als gut genug kennen."
Lola schnaubt und ich zucke leicht zusammen, als sie einen Schritt auf mich zu geht.
"Was ist eigentlich Ihr Problem? Sein Sie doch froh, dass ich gestern abgehauen bin! Oder ist Ihr Leben so langweilig, dass Sie nichts Besseres zu tun haben, als auf irgendwelche Schüler beim Nachsitzen aufzupassen?!"
Mit diesen Worten dreht Lola sich um und stürmt in Richtung des Schulgebäudes.
Für einen Moment stehe ich vollkommen verdattert da, bis nun auch die Wut in mir die Oberhand gewinnt.
"Lola!", rufe ich und gehe ihr mit energischen Schritten nach, "komm sofort zurück! Wir sind noch nicht fertig! Lola!"
"Sie können mich mal! Und jetzt verpissen Sie sich!"
Entgeistert starre ich Lola an, als sie die Tür zum Gebäude aufreißt und hinter sich zuknallt.
Kurz darauf ertönt die Schulglocke.
Es dauert einen Augenblick, bis ich realisiert habe, was gerade passiert ist.
Wieso habe ich mich nur so von ihr provozieren lassen? Warum bin ich so unprofessionell gewesen? Und wie habe ich auch nur im Entferntesten glauben können, dass ich hier und jetzt, morgens vor der Schule, ein sinnvolles Gespräch mit Lola führen kann, nachdem sie am Tag davor vom Nachsitzen abgehauen ist?
Am liebsten hätte ich mich selber geohrfeigt.
Stattdessen hole ich tief Luft und gehe weiter auf das Schulgebäude zu.
Es bringt nichts, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Ich sollte mich lieber auf meine erste Unterrichtsstunde konzentrieren. Und außerdem würde ich Lola heute in meinem letzten Französischkurs sowieso nochmal sehen.
Hoffentlich würde diese Begegnung besser laufen.

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt