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- Lola -

"So, das war's", sage ich und ziehe Danny sein Schlafanzugoberteil wieder über den Rücken, während ich meine mit Creme beschmierten Finger an einem Tuch abwische.
"Ist mein Ausschlag dann morgen weg?", fragt Danny und dreht sich mit schiefgelegtem Kopf zu mir um.
"Wahrscheinlich nicht", sage ich und drehe den Deckel wieder auf das kleine Cremetöpfchen. "Aber es wird zumindest nicht mehr so sehr jucken. Und wenn wir deinen Ausschlag jetzt jeden Tag schön eincremen, wird er ganz bald weg sein."
Daraufhin schenkt Danny mir ein breites Lächeln, das ich erwidere und ihm dann mit einer Hand über seine Haare streiche.
"Na komm, Großer", sage ich und richte mich auf, "Zeit fürs Bett."
"Liest du mir was vor?", fragt Danny und krabbelt in sein Bett.
"Na klar", sage ich, während ich meinen Blick durch unser Zimmer schweifen lasse.
Es ist nicht sehr groß, aber immer noch groß genug, dass mein Bett, ein Kleiderschrank und ein Regal mit ein paar Kinderbüchern und Dannys Spielzeugkiste hineinpassen.
Doch gerade als ich Dannys Lieblingsbuch aus dem Regal ziehe, höre ich ein Klappern.
Prompt spannt sich mein ganzer Körper an.
"Was ist los, Lola?", höre ich Danny fragen, reagiere aber nicht sofort.
Habe ich mich vielleicht geirrt?
In diesem Moment klappert es erneut.
"Ich komme gleich, Danny. Ich muss noch kurz was erledigen", sage ich und lege das Buch neben ihn auf das Bett, bevor ich unsere Zimmertür öffne und wieder hinter mir schließe.
Danny muss das nicht mitbekommen.
Im Flur ist es ruhig, aber kurz darauf ertönt erneut dieses klappernde Geräusch.
Es kommt aus der Küche.
Langsam gehe ich auf den Raum zu und bleibe im Türrahmen stehen.
Auch wenn meine Mutter einen übergroßen Bademantel über ihrem Nachthemd trägt und mir den Rücken zuwendet, während sie in einem der Küchenschränke kramt, sehe ich, dass sie abgemagert ist.
Früher hätte mich das geschockt oder besorgt. Mittlerweile tut es das nicht mehr.
"Suchst du was?", frage ich und kann dabei den gereizten Unterton in meiner Stimme nicht verbergen. Nicht, dass ich es versucht hätte...
Erschrocken fährt meine Mutter herum und mustert mich mit wirrem Blick.
Ihre Wangen sind eingefallen, ihre blauen Augen trüb und von dunklen Schatten umrahmt und ihre blonden Haare zerzaust und ungewaschen.
"Lo-Lola?", fragt sie und fährt sich einmal über das Gesicht.
"Wow. Ich bin beeindruckt, dass du meinen Namen noch kennst", entgegne ich und mustere sie abfällig. "Was machst du da?"
"Ich..." Meine Mutter zögert und schaut zu dem geöffneten Küchenschrank, so als hätte sie eben erst gemerkt, was sie da tut. "Ich...wollte etwas essen..."
"Und deshalb öffnest du den Schrank mit den Tellern und Tassen?"
"Oh...stimmt."
Sie schließt den Schrank wieder und ich verdrehe die Augen.
"Bist du betrunken?"
Sie dreht sich zu mir um und schaut mich mit einem verwirrten Ausdruck an.
"Betrunken?"
"Ja. Betrunken. Besoffen. Hackedicht. Wie auch immer du es nennen willst."
"Ich?"
"Nee, der Weihnachtsmann."
Meine Mutter blinzelt mehrfach, so als würde sie über meine vor Sarkasmus triefende Antwort nachdenken, bis sich ihre Augen mit einem Mal zu schmalen Schlitzen verengen.
"Du hältst dich wohl für witzig, was?", knurrt sie und geht mit leicht schwankenden Schritten auf mich zu.
Alles klar, sie hat getrunken.
Zwar nicht so viel wie sonst, aber es reicht.
"Nicht wahr?", meine Mutter kommt immer näher auf mich zu, "für sehr witzig hältst du dich. Und für oberschlau, du kleine Klugscheißerin!"
Meine Hände ballen sich zu Fäusten.
"Wenigstens sehe ich nicht aus wie ein versoffener Penner. Und rieche auch nicht so!"
Der Kiefer meiner Mutter zuckt gefährlich und als sie ihre Hand hebt, greife ich rasch danach.
"Versuch's gar nicht erst", zische ich und stoße sie zurück, sodass sie ein paar Schritte nach hinten taumelt und gegen die Küchenanrichte stolpert. Das ändert jedoch nichts an ihrem wütenden Gesichtsausdruck.
"Du Miststück!", faucht sie und strafft, wenn auch etwas ungeschickt, ihre Schultern, "du arrogantes, dreckiges, kleines Miststück!"
"Du hast vorlaut und besserwisserisch vergessen", entgegne ich trocken und gehe zum Kühlschrank.
Die Beleidigungen, die sie mir in so einem angetrunkenen Zustand an den Kopf wirft, nehme ich schon lange nicht mehr ernst.
Ohne sie weiter zu beachten, öffne ich den Kühlschrank und nehme eine kleine Tupperdose heraus, die ich meiner Mutter entgegenstrecke.
"Hier. Danny und ich haben aus den übriggebliebenen Nudeln Nudelsalat gemacht. Und wenn du was anderes willst, kannst du dir einfach was aus dem Kühlschrank nehmen. Wir waren heute nämlich noch einkaufen."
Ein wenig befremdet schaut meine Mutter erst auf die Dose in meiner Hand und dann wieder zu mir.
"Was ist?", frage ich und seufze tief, "ich dachte, du hast Hunger."
Immer noch sichtlich irritiert schaut meine Mutter wieder auf die Dose und zieht sie schließlich, wenn auch zögernd, aus meiner Hand. Ihre Finger zittern dabei leicht.
Schweigend sehe ich ihr zu, wie sie eine Gabel aus der Küchenschublade holt und sich etwas unbeholfen an den Küchentisch setzt.
Ich bin froh, dass sie hungrig ist. Normalerweise muss ich sie daran erinnern oder fast schon dazu zwingen etwas zu essen, aber wenn sie getrunken hat, denkt sie selber dran. Trotzdem hasse ich es, wenn sie trinkt! In so einem Zustand ist sie oft verwirrt und um einiges gereizter, was sie wiederum ausfallend und vor allem handgreiflich werden lässt.
Um mich mache ich mir dabei keine Sorgen, aber ich will nicht, dass sie in einem ihrer Wutanfälle Danny verletzt. Das könnte ich ihr nicht verzeihen. Und mir auch nicht.
"Ich geh dann schlafen", sage ich, aber meine Mutter nimmt mich schon gar nicht mehr wahr und stochert stattdessen in dem Nudelsalat herum, bevor sie eine Gabel voll davon in ihren Mund schiebt und langsam kaut. Ihr Blick ist dabei leer und auf die Tischplatte vor ihr gerichtet.
Seufzend gehe ich aus der Küche raus und zurück zu Dannys und meinem Zimmer.
"Da bist du ja endlich!", sagt Danny und strahlt mich an. Er hat sich brav unter seine Decke gekuschelt und streckt mir sein Lieblingsbuch entgegen. "Können wir jetzt lesen?"
"Na klar", sage ich und schenke ihm ein kurzes Lächeln, bevor ich die Tür hinter mir schließe. Allerdings nicht, ohne den kleinen Schlüssel im Schloss herumzudrehen, rauszuziehen und auf den Schreibtisch zu legen.
Sicher ist sicher.

- Zoe -

"Ein Bruder?!"
Ich verziehe das Gesicht, als Monas Stimme in meinen Ohren schrillt.
"Musst du so schreien?", frage ich und rücke mein Handy, das ich unter mein Ohr geklemmt habe, zurecht, während ich parallel die Tomaten für meinen Salat schneide. "So weltbewegend ist diese Information nun auch nicht."
"Hast du eine Ahnung", erwidert Mona, zum Glück diesmal in normaler Lautstärke. "Ich habe dir doch gesagt, dass Lola nichts über ihr Zuhause oder ihr Privatleben erzählt."
"Was ihr gutes Recht ist."
"Natürlich. Aber dass du es schaffst nach nur einem Tag diese Information aus ihr herauszubekommen...ich bin beeindruckt, Süße."
"Jetzt hör aber auf", sage ich und schiebe mit einem Messer die geschnittenen Tomaten von dem Schneidebrett in die Salatschüssel. "Ich habe nichts aus ihr herausbekommen. Mal abgesehen davon, dass das auch gar nicht meine Absicht gewesen ist. Sie hat mir einfach nur erklärt, dass sie mit ihrem kleinen Bruder zum Arzt und sich deswegen beeilen muss. Das hätte sie dir auch gesagt."
"Das bezweifle ich."
Ich runzle die Stirn. "Und wieso?"
"Weil Lola mir immer, wenn ich sie nach einem Grund für etwas gefragt habe, gesagt hat, dass mich das nichts angeht. Sie muss wirklich Vertrauen zu dir gefasst haben. Ich glaube, nicht mal Tina weiß, dass sie einen Bruder hat."
Wärme steigt in meine Wangen, aber ich schüttle den Kopf und umschließe das Handy nun mit den Fingern, während ich es weiter an mein Ohr drücke.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass Lola sich nichts dabei gedacht hat. Wie gesagt, es ist wirklich keine sehr brisante Information. Und abgesehen davon bezweifle ich, dass sie in dieser kurzen Zeit Vertrauen zu mir gefasst haben könnte. Wir hatten bisher kaum etwas miteinander zu tun und die überwiegende Mehrheit der Unterhaltungen, die wir geführt haben, waren nicht sehr positiv oder vertrauensfördernd."
"Wenn du das sagst", erwidert Mona, doch an ihrer Stimme merke ich, dass sie nicht überzeugt ist.
Ich seufze.
"Was?"
"Wie, was?"
"Komm schon." Ich gehe zum Kühlschrank und hole das Salatdressing heraus. "Dir brennt doch noch irgendwas auf der Zunge."
"Na ja..." Durch mein Handy höre ich das Knarren einer Matratze. Wahrscheinlich liegt Mona schon im Bett. "Du hast heute etwas getan, was soweit ich weiß, bisher kein Lehrer gegenüber Lola getan hat. Mich eingeschlossen."
"Ach ja?" Ich hebe die Augenbrauen, während ich mit einer Hand versuche, den Deckel der Dressingflasche zu öffnen. "Und was sollte das sein?"
"Du hast dich bei ihr entschuldigt."
Irritiert halte ich inne und warte, dass Mona noch weiterspricht, aber das tut sie nicht.
"Ist das dein Ernst?", frage ich, nachdem wir uns für eine Weile angeschwiegen haben. "Was ist denn das bitteschön für ein Grund, um Vertrauen mir gegenüber aufzubauen?"
"Aus Lolas Perspektive ein berechtigter Grund."
"Okay", ich seufze und lehne mich gegen die Küchenanrichte. "Das musst du mir erklären."
"Überleg doch mal." Ich höre, wie Mona sich in ihrem Bett aufrichtet. "Es gibt vermutlich keinen Lehrer auf der Schule, der sich bisher gegenüber Lola für irgendetwas entschuldigt hat. Sie kennt diese Reaktion von Lehrern und ich vermute auch von Erwachsenen im allgemeinen nicht. Außerdem warst du nach eurer Auseinandersetzung heute Morgen ihr gegenüber nicht nachtragend und hast auch nicht nachträglich nochmal darauf gepocht, eine Erklärung von ihr zu bekommen, weswegen sie gestern vom Nachsitzen abgehauen ist."
Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe. "Ich verstehe, was du meinst. Aber dadurch werde ich ihr höchstens sympathisch. Das hat nichts damit zu tun, dass sie mir vertrauen könnte."
"Aber Sympathie ist einer der Grundbausteine für Vertrauen." Ich höre an Monas Stimme, dass sie lächelt. "Ich wäre wirklich froh, wenn Lola zumindest zu dir ein gutes Verhältnis aufbauen könnte. Ich habe mich im letzten Jahr wirklich darum bemüht, ein gutes Verhältnis zu ihr zu bekommen, aber es ist schwer, so etwas aufrecht zu erhalten, wenn ich gleichzeitig diejenige bin, die ihr Nachsitzen wegen irgendwelchen Regelbrüchen geben muss."
"Das kann ich mir vorstellen", murmle ich, während Mona am anderen Ende der Leitung seufzt.
"Ich weiß, dass Lola einen guten Kern hat, genauso wie ihre Freunde. Aber im Gegensatz zu ihren Freunden, die durch andere Kurse und Lehrer etwas bessere Noten erreichen konnten und auch nicht so viel schwänzen, steht Lolas Abschluss etwas auf der Kippe. Ich mache mir einfach Sorgen, dass sie es nicht schafft. Deshalb würde ich mir wirklich wünschen, dass du ein besseres Verhältnis zu ihr aufbauen könntest. Ich könnte mir vorstellen, dass sie für ein Fach empfänglicher ist, wenn sie den Lehrer sympathisch findet und du scheinst jemand zu sein, den sie sympathisch finden könnte. Eine gute Note in Französisch würde Lola immens weiterhelfen und könnte ihr wahrscheinlich sogar die entscheidenden Punkte bringen."
"Das klingt einleuchtend", sage ich und atme tief durch, während erneut Wärme in meine Wangen steigt. Dann straffe ich meine Schultern. "Wir schauen einfach, was die nächsten Wochen bringen, in Ordnung?"
"Sicher, Süße", sagt Mona und gähnt, "dann schlaf gut."
"Danke, du auch. Und bis morgen."
Ich lege auf und hole erneut tief Luft.
Dann wollen wir mal sehen, was die nächsten Wochen bringen.

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt