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- Lola -

Das kann doch nicht wahr sein...
Mit einem unterdrückten Schluchzer hebe ich meinen Kopf aus der angewinkelten Armbeuge, die ich auf das Geländer der Brücke gestützt habe, und lasse meinen Blick über das weitläufige Hafenbecken gleiten, in dem die verschiedenen Boote von irgendwelchen Privatbesitzern der reicheren Stadtteile angedockt sind.
Das kann doch nicht wahr sein...
Das kann doch einfach nicht wahr sein...
Ich schlucke schwer und wische mir einmal mit dem Ärmel meiner Lederjacke über mein Gesicht, bevor ich mein Kinn auf meinen Arm lege.
Es war alles umsonst.
Das wochenlange Lernen mit Zoe, um meine Französischnote zu verbessern und so die entscheidenden Punkte für meine Zulassung zum Abschluss zu sammeln.
Den quälend langen Abstand, an den Zoe und ich uns gehalten haben, seitdem Direktorin Berger uns zusammen erwischt hat.
Und die Organisation und das ganze Versteckspiel bezüglich Zoes Geburtstags.
Alles umsonst...
Ich zucke zusammen, als ich eine vibrierende Bewegung in meiner Jackentasche spüre und ziehe nach kurzem Zögern mein Handy hervor, um auf das Display zu schauen.
Zoe.
Schon wieder...
Ich schlucke erneut.
Mit Sicherheit wird Direktorin Berger ihr gesagt haben, dass ich vorhin bei ihr im Büro gewesen bin.
Ich habe die Worte fast nicht herausbekommen.
Sowohl, als ich die alleinige Verantwortung für den Schaden an Herrn Lüdenscheids Auto übernommen habe, als auch, als ich Direktorin Berger mitgeteilt habe, dass ich die Schule abbrechen werde.
An ihrem irritierten und misstrauischen Blick habe ich gleich gemerkt, dass Direktorin Berger mir bezüglich meiner Absicht des Schulabbruchs nicht geglaubt hat und ich bin zum Glück rechtzeitig aus ihrem Büro gestürmt, bevor sie richtig nachhaken oder mich zur Rede stellen konnte. Denn dann hätte ich mit Sicherheit nachgegeben und hätte ihr alles erzählt.
Von Zoes und meinem Treffen an Zoes Geburtstag.
Davon, dass Herr Lüdenscheid uns gesehen und ein Video von uns und unserem Kuss gemacht hat.
Und davon, dass er mich nun mit vier Bedingungen erpresst.
Erstens, dass ich Stillschweigen darüber bewahren soll.
Zweitens, dass ich gegenüber Direktorin Berger zugeben soll, sein Auto ruiniert zu haben.
Drittens, dass ich für die Kosten der Reparatur seines Autos aufkommen werde.
Und viertens, dass ich die Schule unverzüglich abbreche und ohne Abschluss verlasse.
Ansonsten würde das Video bei der zuständigen Schulbehörde landen...
Das Vibrieren meines Handys hört auf und ich schaue mit leerem Blick auf das Benachrichtigungsfeld auf dem Display, welches mir mittlerweile zwölf verpasste Anrufe von Zoe anzeigt.
Verdammt...
Ich spüre, wie erneut Tränen in meinen Augen aufsteigen und schiebe mit einem Schluchzer mein Handy zurück in meine Jackentasche, bevor ich mein Gesicht wieder in meiner Armbeuge vergrabe.
Was soll ich denn jetzt nur machen?
Ich muss irgendwie an das Geld für die Reparatur kommen.
Wenn ich nur für Xenia arbeite, brauche ich ewig dafür, zumal sie sowieso total enttäuscht von mir sein wird, wenn sie erfährt, dass ich die Schule abgebrochen habe und ich ihr dafür nicht mal einen plausiblen Grund nennen kann.
Wahrscheinlich lässt sie mich dann nicht mal mehr für sich arbeiten, mein Abschluss war schließlich die Bedingung dafür.
Und ohne einen gescheiten Abschluss stellt mich doch niemand ein...
Und was soll ich Rohan und den anderen sagen?
Und Zoe?
Sie wird nicht locker lassen, bis ich ihr sage, was los ist...und das darf ich doch nicht...
Verdammt, was soll ich denn jetzt nur machen?!

- Zoe -

Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar. Wenn Sie es zu einem späteren Zeitpunkt versuchen wollen...
"Verdammt!", fluche ich leise über die monotone Stimme und lege auf, bevor ich mit einem Schnauben mein Handy zurück in meine Handtasche werfe, "wieso gehst du nicht an dein Handy, chérie?"
Mit einem tiefen Seufzer schließe ich die Augen und massiere mir mit zwei Fingern meine mittlerweile dröhnende Schläfe.
Nachdem Mona mir von Lolas Besuch im Direktorenbüro erzählt hat, bin ich zurück in die Klasse geeilt, habe meinen Unterricht für beendet erklärt, den Kurs nach Hause geschickt und bin zu meinem Auto gehastet.
Den ganzen Nachmittag habe ich damit verbracht nach Lola zu suchen.
Ich bin an sämtlichen Orten gewesen, die mir eingefallen sind.
Zuerst bin ich zu Xenias Kneipe gefahren, allerdings ohne Erfolg, und als Xenia mich nach dem Grund für meine Suche nach Lola gefragt hat, habe ich ihr bloß gesagt, dass ich mit Lola nochmal über die anstehende Klausur sprechen wollte. Die Wahrheit konnte ich ihr ja schlecht sagen...
Dann bin ich weitergefahren.
Zu Dannys Kindergarten, der jedoch schon geschlossen hatte, als ich angekommen bin.
Zu dem Park mit dem Spielplatz, wo ich Lola und Danny damals angetroffen habe, als Lola den Streit mit ihrer Mutter hatte.
Zu den verschiedenen Stationen, die Lola auf die kleine Adressliste für meinen Geburtstag geschrieben hatte.
Sogar zu mir nach Hause bin ich gefahren.
Alles ohne Erfolg.
Und an ihr Handy geht Lola ebenfalls nicht.
Dann geht es wohl nicht anders...
Ich öffne die Augen wieder und schaue zwischen der Wohnungstür und dem Klingelschild mit dem Namen "Sommer" hin und her.
Ich habe wirklich lange mit mir gerungen, ob ich hierher kommen soll, schließlich hat Lola bisher immer etwas dagegen gehabt, wenn ich sie nach Hause bringen wollte.
Aber jetzt geht es wirklich nicht mehr anders.
Ich muss wissen, ob Lola hier ist...ob es ihr gut geht...sonst werde ich noch wahnsinnig...
Entschlossen hole ich tief Luft und drücke auf das Klingelschild, welches ein kurzes, prägnantes Schrillen erklingen lässt.
Mit klopfendem Herzen lausche ich wie gebannt in die darauf folgende Stille und zucke leicht zusammen, als ich höre, wie sich von innen Schritte der Tür nähren und diese schließlich aufgezogen wird.
Die mir unbekannte Frau, die im Türrahmen erscheint, ist etwa so groß wie ich.
Ihre matten blonden Haare, die ihr lang und glatt über die Schultern fallen, verdecken einen Teil ihres Shirts, welches sie zu ihrer Jeans trägt. Ihre blauen Augen, die von leicht dunklen Schatten umspielt werden, betrachten mich mit einer Mischung aus Überraschung und Verwirrung, während sie fragend eine Augenbraue hebt und mit ihrer Hand weiterhin die Türklinke umfasst.
"Ähm...kann ich Ihnen helfen?", fragt die Frau und mustert mich prüfend.
"Äh..." Etwas unbeholfen umfasse ich meine Handtasche ein wenig fester und trete von einem Fuß auf den anderen. "Frau Sommer, nehme ich an?"
"Ja."
Die Stimme der Frau ist fest, ihr Blick jedoch etwas misstrauisch und zu meiner Überraschung muss ich feststellen, dass mich dieser Blick an meine erste richtige Begegnung mit Lola erinnert. Damals, als ich sie beim Nachsitzen betreuen sollte.
Kein Wunder, Lola scheint die Augen ihrer Mutter geerbt zu haben...
"Entschuldigung, aber würden Sie mir bitte beantworten, aus welchem Grund Sie an meiner Tür klingeln", holt die Stimme von Frau Sommer mich wieder aus meinen Gedanken zurück.
"Ähm, natürlich", erwidere ich und räuspere mich, "ich...ich bin auf der Suche nach Ihrer Tochter und ich wollte wissen, ob sie vielleicht hier ist."
"Sie suchen Lola?" Die Augenbraue von Frau Sommer heben sich vor Erstaunen ein Stück, bevor ihr Blick wieder etwas misstrauischer wird. "Und wieso suchen Sie meine Tochter? Wer sind Sie überhaupt? Und warum..."
"Zoe!"
Überrascht taumle ich ein paar Schritte zurück, als Danny sich mit einem lauten Ruf an seiner Mutter vorbeidrängt und stürmisch meine Beine zur Begrüßung umarmt.
"Hallo, Danny", begrüße ich ihn mit einem leichten Lachen und schiebe ihn sanft ein Stück von mir weg, um mich vor ihn zu knien, "geht es dir gut?"
"Ja!", ruft Danny und nickt eifrig, während er mich breit anstrahlt. "Und dir?"
"Ach..."
Ich seufze leise. Ich kann ihm ja schlecht die Wahrheit sagen...
"Sie...sind...Zoe?"
Mit gehobenen Augenbrauen schaue ich zu Frau Sommer hoch, die mich nun vollkommen verwirrt aus ihren blauen Augen anstarrt.
"Ähm...ja", erwidere ich und richte mich wieder auf, um ihr meine Hand entgegenzustrecken, "mein Name Zoe Jacobi und ich bin Lolas...Lehrerin.."
"L-Lehrerin?"
Anstatt meine Hand zu ergreifen, starrt Frau Sommer mich weiter irritiert an, was mich wiederum die Stirn runzeln lässt. Zumindest so lange, bis Danny an meinem Blazer zupft.
"Wieso suchst du denn Lola?", fragt er und legt den Kopf in den Nacken, um vollständig zu mir hoch schauen zu können.
"Ich muss mit ihr über etwas Wichtiges reden", sage ich und knie mich wieder vor Danny hin, während ich ihn hoffnungsvoll anschaue, "weißt du vielleicht, wo deine Schwester ist?"
Zu meiner Enttäuschung schüttelt Danny den Kopf.
"Nein. Aber sie hat Mama angerufen und ihr gesagt, dass sie mich aus dem Kindergarten abholen soll. Mehr weiß ich auch nicht."
Was?
Ich schaue wieder zu Frau Sommer hoch, die mich aus irgendeinem Grund immer noch verwirrt anstarrt, und stehe wieder auf, um sie eindringlich, fast schon bittend, anzuschauen.
"Wissen Sie vielleicht, wo Lola ist? Oder hat sie irgendwelche Andeutungen gemacht, wo sie hin wollte? Bitte, ich muss wirklich dringend mit ihr sprechen. Ich versuche Lola schon den ganzen Nachmittag über zu erreichen und habe bestimmt die halbe Stadt nach ihr abgesucht. Wenn Sie also irgendetwas wissen sollten, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir das sagen könnten. Bitte."
Nach und nach verschwindet die Verwirrung aus Frau Sommers Gesicht und macht dafür einem leicht überraschten Ausdruck Platz, bevor sie sich schließlich räuspert.
"Es tut mir Leid, aber ich fürchte, dass ich Ihnen da auch nicht sonderlich weiterhelfen kann. Mein Gespräch mit Lola war sehr kurz. Sie hat mich lediglich darum gebeten Danny abzuholen und hat wieder aufgelegt, bevor ich irgendetwas sagen oder fragen konnte."
Ich spüre, wie mein Herz schwerer wird und wende mein Gesicht für einen Moment ab, um meine Enttäuschung zu verbergen.
"Okay", sage ich leise und atme tief durch, bevor ich in meine Handtasche greife und einen Kugelschreiber und ein Taschentuch daraus hervorkrame. "Könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun?"
"Und welcher wäre das?", fragt Frau Sommer, während ich meine Handynummer so leserlich wie möglich auf das Taschentuch kritzle.
"Könnten Sie mich anrufen, wenn Lola nach Hause kommen sollte?", frage ich und halte ihr das Taschentuch hin, welches Frau Sommer nach kurzem Zögern annimmt, "ich wäre einfach beruhigt, wenn ich zumindest wüsste, dass sie sicher zu Hause ist."
"Natürlich", sagt Frau Sommer und nickt leicht, während sie meinen Augenkontakt hält, "das kann ich gerne machen."
"Danke...wirklich vielen Dank, Frau Sommer." Ich erwidere das Nicken und zwinge mich zu einem zuversichtlichen Lächeln, während ich von Frau Sommer zu Danny schaue. "Tschüss, Danny."
"Tschüss, Zoe", erwidert Danny und winkt leicht, als ich zurück zur Treppe gehe, "und mach dir keine Sorgen. Wenn Lola nicht bei Xenia arbeitet, ist sie immer spätestens zum Abendessen wieder zu Hause."
Dannys Kommentar bringt mich gegen meinen Willen zum Lachen, während ich eine Hand auf das Treppengeländer lege.
"Danke, Danny. Das ist gut und beruhigend zu wissen", erwidere ich, während Danny mich nochmal breit anstrahlt und dann wieder hinter seiner Mutter in der Wohnung verschwindet.
Frau Sommer hingegen schaut mich zu meiner Verwunderung wieder etwas nachdenklich an.
Was hat sie denn nur?
Lola wird ihr ja wohl kaum von mir erzählt haben...
Ach, wahrscheinlich ist sie einfach nur irritiert, dass Danny mich auch kennt...
"Waren Sie schon am Hafen?"
"Ähm...wie bitte?", frage ich und schüttle ein wenig irritiert den Kopf.
Obwohl ich Frau Sommers Blick erwidert habe, bin ich wieder in meinen Gedanken versunken.
Typisch...
"Ich habe gefragt, ob Sie schon am Hafen nach Lola gesucht haben", wiederholt Frau Sommer, während sie mich immer noch nachdenklich mustert.
"Äh, nein." Ich blinzle irritiert. "Wieso sollte ich denn am Hafen nach ihr suchen?"
"Lola geht meistens dorthin, wenn sie alleine sein will. Sie war dort oft als Kind...zusammen mit ihrem Vater...wahrscheinlich bedeutet ihr der Ort deshalb so viel..." Ich sehe, wie Frau Sommer etwas ungeschickt die Arme vor der Brust verschränkt und sich mit ihren Handflächen über die Arme streicht, so als wollte sie sich eine Art Halt geben, bevor sie sich schließlich räuspert. "Deshalb...würde es mich nicht überraschen, wenn Sie sie dort finden würden. Und wenn Sie dort noch nicht waren, würde ich da auf jeden Fall nach Lola suchen."

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt