# 31

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- Lola -

"Und? Hast du alles, was brauchst, Großer?", frage ich und schaue mit einer amüsiert gehobenen Augenbraue zu Danny, der mit einem prüfenden Blick den Inhalt seines Rucksacks mustert.
"Ich glaube schon", sagt er und runzelt noch einmal kurz die Stirn, bevor sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitet und er kurz darauf die Schnalle seines Rucksacks zuschnappen lässt.
"Okay, ich bin fertig", sagt er und strahlt mich an, nachdem er sich den Rucksack aufgezogen und die beiden Gurte über seinen Schultern mit jeweils einer seiner kleinen Hände fest umfasst hat. "Wir können jetzt zu Timo gehen!"
"Super", entgegne ich und erwidere Dannys Lächeln, "als ich vorhin mit Timos Mutter telefoniert habe, hat sie mir gesagt, dass Timo sich schon sehr auf dich freut. Und sie hat mir auch gesagt, dass wenn ihr beiden brav seid, ihr heute sogar etwas länger aufbleiben dürft."
Ich zwinkere Danny verschwörerisch zu und muss etwas lachen, als sein Strahlen noch breiter wird.
Als ich Timos Mutter angerufen und gefragt hatte, ob Danny heute bei ihr und Timo übernachten könnte, hatte ich zunächst befürchtet, dass sie ablehnen würde. Immerhin war das Ganze sehr spontan und zunächst war sie auch etwas überrascht gewesen, hatte dann aber ohne großartiges Hinterfragen zugestimmt und gesagt, dass ich doch wüsste, dass Danny jederzeit willkommen sei.
Auch Danny hat sich riesig darüber gefreut, als ich ihm davon erzählt hatte und hat sofort damit angefangen, sämtliche Spielzeugautos in seinen Rucksack zu quetschen, während ich ihm eine separate Tasche mit seinen Schlafsachen, etwas Waschzeug und seinen Anziehsachen für den nächsten Tag gepackt habe.
Um ehrlich zu sein war ich schon etwas überrascht gewesen, dass Danny überhaupt nicht nach dem Grund gefragt hat, weshalb ich diese Übernachtung bei seinem besten Freund für ihn arrangiert habe. Wahrscheinlich denkt er, dass ich ihm damit eine kleine Freude machen wollte, und auch wenn das zum Teil schon richtig ist, waren meine Gründe dafür in erster Linie egoistischer Natur gewesen.
Wer wüsste schließlich, was mein Abend mit Zoe noch bringen würde...
"Was ist denn hier los?"
Überrascht drehe ich mich um und sehe, wie meine Mutter mit einem fragenden Gesichtsausdruck im Türrahmen zu unserem Zimmer steht. Als ihr Blick auf Danny fällt, der immer noch die Gurte seines Rucksacks entschlossen mit seinen Händen umfasst, hebt sie die Augenbrauen.
"Wo geht ihr hin?", fragt sie und schaut zu mir, wobei sich in ihrer Stimme Verwunderung und Misstrauen mischen.
Ich seufze und greife nach der kleinen Tasche, die ich für Danny gepackt habe.
"Entspann dich", sage ich und verdrehe leicht die Augen, "Danny übernachtet heute bei seinem besten Freund und ich wollte ihn dort gleich hinbringen. Das ist alles."
"Oh. Ach so." Die Körperhaltung meiner Mutter entspannt sich etwas, aber ihr Gesichtsausdruck bleibt weiterhin zwiegespalten. "Warum hast du mir nichts davon gesagt?"
"Ich dachte, es interessiert dich nicht", erwidere ich schlicht und verlagere mein Gewicht von der einen auf die andere Seite, während ich eine Hand in die Hüfte stemme. "Früher wäre es dir ja nicht mal aufgefallen, ob Danny und ich überhaupt da sind."
Sofort legt sich ein Schatten über die Augen meiner Mutter. "Du weißt, dass das nicht stimmt. Zumindest jetzt nicht mehr. Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich ändern möchte und deshalb interessiert es mich auch, wenn Danny oder du über Nacht nicht hier seid. Sonst mache ich mir schließlich Sorgen."
"Natürlich", entgegne ich und verdrehe erneut die Augen, "dann sollte ich dir wohl auch am besten gleich sagen, dass ich heute wahrscheinlich ebenfalls nicht nach Hause kommen werde."
"Echt?" Danny schaut mich aus großen Augen an und ich würde mich am liebsten dafür ohrfeigen, dass ich für einen kurzen Moment seine Anwesenheit vergessen habe.  "Übernachtest du heute auch woanders?"
"Ähm, ja...also, vielleicht", murmle ich und weiche dabei sowohl Dannys Blick als auch dem von meiner Mutter aus, "ich weiß es noch nicht so genau."
"Wie kann man das denn nicht so genau wissen?", fragt Danny und mustert mich mit schief gelegtem Kopf, während ich in meinem Kopf nach einer glaubwürdigen Ausrede suche.
"Ähm...na ja...also..."
"Das ist manchmal so, Danny. Besonders bei Erwachsenen. Wahrscheinlich weiß deine Schwester einfach noch nicht, wie lange genau ihre Verabredung dauern wird."
Während Danny meiner Mutter diese allgemeine und doch recht ausweichend formulierte Erklärung abzukaufen scheint, starre ich meine Mutter mit offenem Mund an, die ihren Kopf von Danny wieder zu mir dreht. Ein amüsiertes Lächeln umspielt ihre Lippen.
"Ist doch richtig, oder Lola?"
"Ähm...ja", erwidere ich und muss schlucken, da sowohl der Blick als auch der Unterton in der Stimme meiner Mutter mir verraten, dass sie genau zu wissen scheint, was ich heute Abend vorhabe.
Na super...
Etwas verlegen fahre ich mir mit einer Hand durch die Haare und räuspere mich kurz darauf.
"Ähm, Danny? Ziehst du dir schon mal deine Schuhe und die Jacke an? Dann können wir auch gleich los."
"Okay!"
Mit einem breiten Grinsen stapft Danny mit seinem Rucksack auf dem Rücken aus dem Zimmer raus und auf den Flur. Für einen Moment schaut meine Mutter ihm nach, bevor sie sich wieder zu mir dreht.
"Dann seid ihr beide also heute Nacht woanders?", fragt sie und hebt vielsagend eine Augenbraue, "oder zumindest Danny?"
"Ähm, ja...sieht wohl so aus", murmle ich und schaue zur Seite, während ich die Tasche in meiner Hand etwas fester umfasse.
"Verstehe." Meine Mutter verschränkt die Arme vor der Brust und nickt langsam, während sie gemächlich auf zutritt und schließlich ein paar Schritte vor mir stehen bleibt. "Kann ich...kann ich dich vielleicht etwas fragen?"
"Fragen kannst du mich alles. Ob ich dir antworte, überlege ich mir dann", erwidere ich und verschränke ebenfalls die Arme, doch zu meiner Überraschung lässt sich meine Mutter davon nicht irritieren und schaut mich weiter nachdenklich an.
"Hast du die Übernachtung für Danny heute nur organisiert, weil du nicht wusstest, ob du heute Abend nochmal nach Hause kommst und nicht wolltest, dass er mit mir alleine ist?"
Ehrlich gesagt hatte ich nicht erwartet, dass sie darauf kommen würde...
"Na und?", entgegne ich, wobei meine Stimme einen leicht trotzigen Tonfall annimmt, "kannst du mir das etwa verübeln?"
Meine Mutter hält inne und ich meine sogar, einen leicht verletzten Ausdruck auf ihrem Gesicht auszumachen, bevor sie tief aufseufzt.
"Nein, das kann ich dir nicht verübeln. Aber ich verstehe es nicht. Ich meine, gestern Abend als du weg warst hat doch auch alles geklappt und..."
"Gestern Abend habe ich Danny auch wie immer ins Bett gebracht, bevor ich zur Oberstufenparty gegangen bin. Ich habe mich ja extra deswegen für die spätere Schicht eingetragen", entgegne ich und funkle meine Mutter mit einer Spur von Wut in meinen Augen an. "Kein Wunder also, dass es gestern Abend geklappt hat. Du musstest ja überhaupt nichts machen!"
"Weil du mich ja auch nichts machen lässt!" Die Stimme meiner Mutter ist nicht mehr als ein leises Zischen und sie tritt noch einen Schritt auf mich zu. "Immer wenn ich in Dannys Nähe komme, schaust du mich an, als würdest du mir am liebsten den Hals umdrehen!"
"Ich wusste gar nicht, dass du Gedanken lesen kannst!", zische ich zurück, während sich meine Augen zu schmalen Schlitzen verformen, "solange du mir nicht bewiesen hast, dass du dich wirklich geändert hast, werde ich dich nicht länger als nötig mit Danny alleine lassen!"
"Und wie soll ich dir das bitte beweisen, wenn du mir durch so eine Aktion die Möglichkeit nimmst, gerade das zu beweisen?"
Ich stocke und halte für einen Augenblick inne, bevor ich kurz darauf den Kopf schüttle.
"Es gibt auch andere Möglichkeiten das zu beweisen. Möglichkeiten, die nicht Danny involvieren. Zum Beispiel, wenn du zu dem Termin mit deiner Therapeutin gehen würdest oder..."
"Da war ich gestern."
"Was?" Ich bin so über den Einwand meiner Mutter überrascht, dass ich gar nicht anders kann, als sie komplett irritiert anzustarren. "Soll das ein Scherz sein?"
"Siehst du mich lachen?"
Nein.
Der Blick meiner Mutter ist weiterhin ernst und sie hat immer noch die Arme vor der Brust verschränkt.
Nach einer Weile atmet sie tief durch.
"Ich nehme an, du hast den Termin vergessen und bist deshalb überrascht, dass ich alleine daran gedacht habe und hingegangen bin, oder?"
"Nein", erwidere ich und schüttle den Kopf, "ich war so fest davon überzeugt, dass du sowieso nicht hingehen würdest, dass ich mir gar nicht erst die Mühe gemacht habe, mir den genauen Termin zu merken."
Das lässt meine Mutter kurz und bitter auflachen, aber sie mustert mich danach wieder etwas nachdenklich. Dann räuspert sie sich.
"Ich...ich habe sehr lange mit meiner Therapeutin gesprochen. Sowohl über die Zeit früher als auch über die Zeit heute. Um ehrlich zu sein war ich etwas irritiert wie...wie gut es mir getan hat darüber zu reden. Aber es hat mir gut getan. Sehr gut sogar. Genauso wie früher, auch wenn ich das scheinbar wohl irgendwie vergessen habe. Oder verdrängt. Es würde zumindest zu mir passen. Dass ich bestimmte Dinge verdränge, wenn ich sie ignorieren oder mich nicht mit ihnen auseinandersetzen will, meine ich. Und das dann anders kompensiere. Meistens auf eine nicht so positive Art. Das sagt zumindest meine Therapeutin."
"Das hätte ich dir auch sagen können", entgegne ich und verdrehe die Augen, "und das ohne abgeschlossenes Studium oder einen Doktortitel."
"Ja, ich...ich weiß", sagt meine Mutter und nickt langsam, "vermutlich hättest du mir das auch sagen können. Ich hätte es mir ja eigentlich sogar selber sagen können. Es ist ja immer noch dasselbe Problem, was ich auch schon damals hatte. Seit dem...seit dem Tod deines Vaters."
Ich sehe, wie meine Mutter sich auf die Unterlippe beißt und zur Seite schaut, während sich ihre Arme für kurze Zeit etwas fester um ihren Körper verschränken, bevor sie ihren Kopf wieder zu mir dreht.
"Meine Therapeutin ist der Ansicht, dass ich die Therapie damals zu früh beendet habe. Das hatte sie mir auch schon damals gesagt, aber es war mir zu dieser Zeit ziemlich egal gewesen und sie konnte mich ja auch nicht dazu zwingen, die Therapie weiter fortzusetzen. Zuerst hat auch alles gut geklappt, aber als Mark mich dann kurz nach Dannys Geburt verlassen hat..."
Sie verstummt erneut, dieses Mal aber um einiges kürzer und strafft nur ein paar Augenblick später ihre Schultern.
"Meine Therapeutin meint, dass mich dieses Ereignis...dieser Verlust...wieder in dasselbe Loch zurückgeworfen hat, in das ich damals auch nach dem Tod deines Vaters gefallen bin. Eben weil ich nicht vollständig damit abgeschlossen hatte. Genauso wie...genauso wie dieser Moment mit der Kornflasche mich daran erinnert hat, was ich dir damals angetan habe, als du noch ein Kind warst."
Während meine Mutter ihren Blick beim Sprechen immer mehr gesenkt hat, spüre ich, wie sich mein Hals nach und nach zusammenzieht. Trauer und Wut mischen sich in mir und mein Gesicht verzieht sich etwas.
"Du erwartest doch jetzt nicht wirklich so etwas wie Mitgefühl von mir?! Oder womöglich noch Mitleid?!"
"Ich...nein", hastig schüttelt meine Mutter den Kopf, "nein, das erwarte ich nicht von dir. Das könnte ich gar nicht von dir erwarten. Nicht nach allem, was ich dir angetan habe. Ich erwarte nicht einmal, dass du mir vergibst. An deiner Stelle könnte und würde ich mir dafür bestimmt auch nicht vergeben. Ich habe bei dir wahrscheinlich alles falsch gemacht, was man als Mutter nur falsch machen kann. Und das...das hast du nicht verdient."
Ich schlucke schwer, in der Hoffnung den Kloß in meinem Hals etwas zu lösen, allerdings ohne Erfolg.
"Die Erkenntnis kommt ja sehr früh", sage ich stattdessen, wobei so viel Bitterkeit in meiner Stimme mitschwingt, dass es mich selber ein bisschen überrascht.
"Ich...ich weiß", sagt meine Mutter und schaut langsam wieder zu mir, "ich...ich hätte dir eine bessere Mutter sein müssen. Erst recht, weil ich genau wusste, was mit mir nicht stimmte und...und auch immer noch nicht ganz stimmt und ich trotzdem nichts getan habe, um daran etwas zu ändern. Aber ich werde jetzt aktiv an diesen Dingen arbeiten. Ich habe zweimal in der Woche Therapietermine. Einmal eine Gruppentherapie und einmal eine Einzelsitzung bei meiner Therapeutin. Ich...ich werde wirklich alles in meiner Macht stehende tun, um eine bessere Mutter zu werden. Sowohl für dich, als auch für Danny. Ich...ich kann mir vorstellen, dass du mich bestimmt am liebsten gar nicht mehr in deinem Leben haben möchtest und...und wenn du das wirklich willst, dann akzeptiere ich das auch. Aber ich möchte wenigstens versuchen, für Danny eine bessere Mutter zu sein. Eine Mutter, die ein so wunderbarer und großartiger Junge wie er verdient und...und die vielleicht irgendwann hoffentlich auch mal so wunderbar und großartig sein wird wie seine Schwester."
Ich schlucke erneut und atme tief durch, während meine Augen mehrfach blinzeln, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
Nach einer Weile räuspere ich mich und schaue wieder zu ihr.
"Und was genau willst du jetzt von mir?"
"Eine Chance." Meine Mutter tritt noch einen Schritt auf mich zu und sieht mich bittend an. "Alles, worum ich dich bitte, ist eine Chance. Ich will es dir beweisen, Lola. Wirklich! Ich will dir beweisen, dass ich eine gute Mutter für Danny sein kann. Aber dazu brauche ich eine Chance. Eine einzige Chance."
Ich schließe meine Augen und hole tief Luft.
Eine einzige Chance...
Sie hat Recht, wenn sie sagt, dass ich sie am liebsten nicht mehr in meinem Leben haben wollen würde. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich sie damals nach dem ersten Vorfall mit der geworfenen Flasche nicht mehr sehen müssen, auch wenn die Zeit im Heim nicht viel besser gewesen ist und bestimmt auch nicht viel besser geworden wäre.
Ich würde ihr wirklich gerne glauben, dass sie das alles ernst meint und es zumindest bei Danny besser machen möchte als bei mir.
Aber kann ich ihr vertrauen? Und kann ich ihr wirklich Danny anvertrauen?
"Wo bleibst du denn, Lola?" Ich öffne meine Augen wieder und sehe, dass Danny wieder den Kopf in unser Zimmer gesteckt hat und ungeduldig auf seinen Füßen auf und abwippt.
"Komm schon! Timo wartet doch auf uns!"
"Ich komme ja schon, Großer", erwidere ich und straffe meine Schultern, bevor ich in Richtung der geöffneten Zimmertür gehe.
Als ich an meiner Mutter vorbeikomme, bleibe ich kurz stehen, drehe meinen Kopf aber nicht zu ihr.
"Ich...ich denke darüber nach", sage ich leise und ohne sie anzusehen.
Dann setze ich mich wieder in Bewegung und verlasse zusammen mit Danny das Zimmer.
Ich werde heute diesbezüglich sowieso keine Entscheidung mehr treffen, also werde ich jetzt auch nicht weiter darüber nachdenken. Stattdessen konzentriere ich mich jetzt erst einmal darauf, Danny zu seinem besten Freund zu bringen.
Und danach gehe ich zu Zoe...

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt