# 60

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- Lola -

"Also, was sagt ihr zu Aufgabe vier?", fragt Rebecca, während sie sich noch etwas mehr über den Tisch zu Rohan und mir vorbeugt.
"Genauso bescheuert wie die drei Aufgaben davor", brummt Rohan, der lustlos ein paar Strichmännchen neben die Aufgabe in dem Mathebuch kritzelt.
"Ach, kommt schon", seufzt Rebecca und verdreht leicht die Augen, "die Klausur ist in zwei Wochen und Herr Lüdenscheid lässt uns so gut wie nie in Gruppen arbeiten, also müssen wir diese Zeit auch dementsprechend ausnutzen."
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Rebecca hilfesuchend in meine Richtung schaut, aber ich kann mich nicht mal dazu aufraffen ihren Blick zu erwidern und schaue stattdessen weiterhin schweigend auf die Aufgabe vor mir, ohne den Sinn der einzelnen Buchstaben und Zahlen wirklich zu begreifen.
Obwohl Zoes Geburtstag erst eineinhalb Tage her ist, kommt es mir so vor, als wären schon wieder Wochen seit unserer letzten Begegnung vergangen, zumal die Erinnerung an sich mir auch so unwirklich vorkommt.
So, als wäre das Ganze niemals geschehen.
So, als wäre es ein lang vergessener Traum gewesen...nur mit dem Unterschied, dass es keiner war.
Und die Gewissheit, dass es kein Traum gewesen ist, ist tröstend und schmerzhaft zugleich.
Tröstend, weil ich weiß, dass das irgendwann unsere gemeinsame Zukunft sein wird.
Und schmerzhaft, weil ich auch weiß, wie weit entfernt diese gemeinsame Zukunft noch ist...
Ich hole tief Luft und kaue gedankenverloren auf meiner Unterlippe, während ich immer noch mit ausdruckslosem Gesicht auf die Matheaufgabe vor mir starre.
Immer wieder waren meine Gedanken in den vergangenen Tagen zu Zoe gewandert.
Schon als ich am Sonntag nach einem viel zu langen Fußmarsch nach Hause gekommen bin, habe ich sowohl Dannys stürmische Begrüßung als auch den nachdenklichen Blick meiner Mutter kaum wahrgenommen und bin ich direkt in Dannys und mein Zimmer gegangen, habe mich ins Bett gelegt und mir die Decke über meinen Kopf gezogen.
Natürlich hat Danny wissen wollen, wie mein Treffen mit Zoe gewesen ist, aber überraschenderweise hat meine Mutter ihn dann wieder aus unserem Zimmer gezogen und gemeint, dass ich sicherlich sehr müde sei und mich ausruhen müsste. Das stimmte sogar zum Teil, aber in erster Linie wollte ich alleine sein.
Alleine mit meinen Gedanken, die ununterbrochen um Zoe kreisten, so wie auch jetzt.
Ständig denke ich darüber nach, wie es ihr geht...was sie gerade macht...und ob sie wohl auch in diesem Moment an mich denkt...
Wenigstens würde ich sie gleich im Französischkurs sehen...ein kleiner, wenn auch schmerzhafter Trost...
"Jetzt kommt schon, ihr beiden", seufzt Rebecca erneut und schaut zwischen Rohan und mir hin und her, "die Aufgabe ist wirklich nicht schwer und der letzten sogar recht ähnlich. Wenn ihr..."
Rebecca verstummt, als das schrille Klingeln der Schulglocke durch die Klasse dröhnt und die anderen Schüler unseres Kurses sofort beginnen, ihre Sachen zusammenzupacken.
"Die Aufgaben, die ihr nicht im Unterricht geschafft habt, macht ihr zu Hause fertig, damit wir sie in der nächsten Stunde ausführlich besprechen können", ruft Herr Lüdenscheid über den Lärm hinweg und bringt dadurch nicht nur mich, sondern auch die anderen aus dem Kurs dazu, genervt aufzustöhnen und die Augen zu verdrehen.
"Schau dir den mal an", raunt Rohan mir zu und deutet mit dem Kopf zu Herrn Lüdenscheid, der seinen Blick mit einem schadenfrohen Grinsen durch den Raum gleiten lässt, "wie ekelhaft der sich einfach freut."
"Was hast du erwartet? Beileidsbekundungen?", erwidere ich trocken und schultere meine Tasche, "es ist doch nichts Neues, dass der Typ sich darüber freut, wenn er uns den Nachmittag versauen kann."
"Als ob ich die Aufgaben mache", entgegne Rohan und tippt sich an die Stirn, während er ebenfalls seine Tasche über die Schulter zieht, "das sind über zehn Stück und die Hälfte davon sind Sachen, die wir noch nicht mal im Unterricht besprochen haben."
"Auch das ist nichts Neues", seufze ich und dränge mich etwas ungeduldig an Rohan vorbei. "Wir sehen uns dann später. Ich muss jetzt zu Französisch und..."
"Vorher würde ich aber noch gerne mit dir sprechen, Lola."
Was?
Verwirrt drehe ich mich um und sehe, dass Herr Lüdenscheid ein paar Schritte von mir entfernt steht und mich mit seinem schadenfrohen Grinsen mustert.
"Ähm", irritiert hebe ich eine Augenbraue, "und wieso?"
"Das werde ich dir dann sagen. Unter vier Augen."
Herr Lüdenscheid schaut über meine Schulter hinter mich, wo Rohan und Rebecca immer noch stehen und zumindest Rohan ihm vermutlich einen nicht sehr charmanten Blick zuwerfen wird...verständlicherweise...
Trotzdem versuche ich mich und meine Antipathie gegenüber Herrn Lüdenscheid so gut wie möglich im Zaum zu halten, schließlich habe ich Zoe versprochen mich zusammenzureißen, und atme stattdessen tief durch.
"Aber ich muss jetzt eigentlich zu..."
"Ich übernehme selbstverständlich die Verantwortung dafür, wenn du dich zu deiner nächsten Unterrichtsstunde verspäten solltest", unterbricht mich Herr Lüdenscheid und betrachtet mich weiterhin aufmerksam, während sich meine Hände langsam zu Fäusten ballen und ich auf die Uhr über der Klassenzimmertür schaue.
Umso länger ich mit diesem Vollidioten diskutiere, umso mehr verpasse ich von Zoes Unterricht...
"Na gut", seufze ich schließlich ergeben und lasse meine Schultern etwas sinken, "wenn Sie darauf bestehen..."
"Das tue ich", erwidert Herr Lüdenscheid, dessen Grinsen nun selbstgefällige Züge annimmt, während er sich abwendet und zurück zu seinem Pult geht.
"Der Typ hat doch irgendwas vor", knurrt Rohan, der dicht hinter mich getreten ist, genauso wie Rebecca, die nun neben mir steht.
"Solange er sich kurz fasst, ist mir das egal", erwidere ich schulterzuckend und schaue erneut zu der Uhr.
Wehe, der Typ ruiniert mir die einzige Zeit, die ich in der Woche mit Zoe verbringen kann, ohne dass es allzu auffällig ist...
"Möchtest du, dass ich draußen auf dich warte, bis das Gespräch vorbei ist?"
"Ach, das ist nicht nötig", entgegne ich auf Rohans Vorschlag und schüttle den Kopf, "geht ihr beiden ruhig, ich komme schon klar."
"Na gut, wie du meinst", murmelt Rohan und wirft noch einen letzten Blick auf Herrn Lüdenscheid, der sich inzwischen wieder hinter sein Pult gesetzt hat, und verlässt dann zusammen mit Rebecca als Letzter den Klassenraum.
Nachdem Rohan die Tür hinter sich zugezogen hat, seufze ich tief und vergrabe meine Hände in den Taschen meiner Lederjacke, während ich auf das Pult von Herrn Lüdenscheid zutrete.
"Was gibt es denn?", frage ich und versuche dabei, meine Stimme so gelangweilt wie möglich klingen zu lassen, in der Hoffnung, dass der Typ mir meine wachsende Ungeduld nicht anmerkt.
"Ach", Herr Lüdenscheid lehnt sich ein wenig in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust, "ich wollte mich lediglich nach deinem Befinden erkunden."
"Hä?"
Mir ist der Laut entwichen, noch bevor ich ihn zurückhalten konnte, genauso wie es mir jetzt mehr als schwer fällt, Herrn Lüdenscheid nicht allzu irritiert anzuschauen.
Nach meinem Befinden erkunden...soll das ein Scherz sein?
"Überrascht dich das etwa?", fragt Herr Lüdenscheid und schafft es zu meinem Erstaunen sogar, einen relativ echt wirkenden verwunderten Gesichtsausdruck aufzusetzen.
"Ein wenig", murmle ich, immer noch irritiert, wobei meine Antwort wohl die Untertreibung des Jahrtausends darstellt.
"Nun", beginnt Herr Lüdenscheid und lehnt sich wieder ein Stück auf seinem Stuhl vor, um seine Hände vor sich auf dem Pult ineinander zu falten, "mir ist aufgefallen, dass du heute während der Gruppenarbeit sehr abwesend warst. Gibt es dafür vielleicht einen bestimmten Grund?"
Ich schlucke kurz, bleibe aber ruhig.
Ich war noch nie besonders aufmerksam in Mathe. Das ist schon seit Jahren so und an und für sich auch nichts Neues. Schließlich hat sich Herr Lüdenscheid unter anderem aus diesem Grund jahrelang über mich beschwert...warum spricht er mich dann also ausgerechnet jetzt darauf an?
"Nein", ich zucke so lustlos wie möglich mit den Schultern und gähne kurz, "dafür gibt es keinen Grund. Ich bin einfach nur müde."
"Ah, natürlich", sagt Herr Lüdenscheid und nickt verständnisvoll, was jedoch nicht besonders authentisch wirkt. "Ich wollte in diesem Punkt nur sicher gehen, denn du hast wirklich schon sehr abwesend gewirkt. So, als wärst  du mit deinen Gedanken ganz woanders...oder bei jemand ganz anderem."
Ich spüre, wie meine Hände sich in den Taschen meiner Lederjacke wieder zu Fäusten ballen und mein Herz beginnt, etwas schneller gegen meinen Brustkorb zu schlagen.
Ganz ruhig...ich muss ganz ruhig bleiben...ich interpretiere da viel zu viel hinein.
Der Kerl weiß nichts.
Diese Andeutungen haben rein gar nichts zu bedeuten...
Meine Gedanken verstummen, als Herr Lüdenscheid sich noch ein Stück weiter vorlehnt und sein Grinsen wieder diese selbstgefälligen Züge annimmt. "Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass deine Gedanken bei einer gewissen Französischlehrerin gewesen sind. Einer gewissen Französischlehrerin, die an der Zulassung zu deinem Abschluss nicht ganz unbeteiligt gewesen ist."
Oh nein...nein...
Aber wie...
Woher...
Während meine Gedanken mir mehr und mehr entgleiten, schaffe ich es zum Glück meinen Gesichtsausdruck weiterhin neutral und sogar etwas gelangweilt zu halten.
Lediglich meine Augen haben sich ein bisschen geweitet und meine Fingernägel bohren sich inzwischen schmerzhaft in die Innenflächen meiner Hände.
Das Grinsen von Herrn Lüdenscheid wird unterdessen nur noch breiter.
"Liege ich mit dieser Vermutung vielleicht richtig?"
"Nein!", stoße ich hervor und räuspere mich dann, um die Heftigkeit in meiner Stimme etwas zu überspielen.
Wie war das noch gleich mit "ruhig bleiben" gewesen?
Verdammt...
Herr Lüdenscheid hat sich in der Zwischenzeit wieder etwas in seinem Stuhl zurückgelehnt.
"Nein?", fragt er, während er mich mit einer amüsiert hochgezogenen Augenbraue mustert.
"Nein", wiederhole ich, diesmal weniger heftig, dafür etwas ruhiger und entschlossener. "Und um ehrlich zu sein verstehe ich auch nicht, wie Sie darauf kommen, dass ich mit meinen Gedanken bei Frau Jacobi bin. Sie ist nur meine Lehrerin und mehr nicht."
"Mehr nicht, so so", murmelt Herr Lüdenscheid und nickt langsam, bevor er sich auf seinem Stuhl zur Seite dreht und ein Handy aus seiner Jackentasche zieht, welche hinter ihm über der Stuhllehne hängt.
Ich blinzle etwas irritiert, während Herr Lüdenscheid sein Handy entsperrt und scheinbar etwas darin zu suchen scheint, bis sein Grinsen schließlich erneut etwas breiter wird und er wieder zu mir schaut.
"Nun", sagt er gedehnt und legt sein Handy zu mir gedreht auf das Pult, "wenn du mich fragst sieht das schon nach ein bisschen mehr aus."
Was...?
Ich zögere einen Moment, bevor ich noch einen Schritt auf Herrn Lüdenscheids Pult zutrete, um besser auf das Handy schauen zu können...und erstarre.
Nein!
...mein Gesichtsausdruck entgleitet mir vollständig...
Nein!
...heiße und kalte Schauer durchzucken meinen Körper...
Nein!
...und Panik breitet sich in mir aus...
Nein! Nein! Nein!
Ein Video wird auf Herrn Lüdenscheids Handy abgespielt.
Ein Video von Zoe und mir.
Ein Video, wie wir uns am Sonntagmorgen voneinander verabschiedet haben, als Zoe mir meine Handtasche nachgebracht hat.
Nein...
"Was man nicht alles an einem späten  Sonntagmorgen auf dem Weg zum Bäcker so zu sehen bekommt", höre ich Herrn Lüdenscheids Stimme sagen, während ich in dem Video sehe, wie ich mich zu Zoe vorlehne und sie küsse.
Nein...
Kurz darauf ist die Aufnahme beendet und Herr Lüdenscheid nimmt sein Handy wieder vom Pult, um es zurück in seine Jackentasche zu schieben.
"Zum Glück hat Frau Jacobis lauter Ruf deines Namens mich auf euch aufmerksam gemacht", fährt er fort, während ich spüre, wie langsam Übelkeit in mir aufsteigt, "ich muss nämlich zugeben, dass ich dich unter normalen Umständen in diesem Kleid nicht erkannt hätte. Ich meine, in Anbetracht deiner bevorzugten...Kleidungswahl."
Ich bekomme nur am Rand mit, wie Herr Lüdenscheid mich abfällig mustert, während ich das Gefühl habe, dass der Boden unter mir weggleitet.
Er weiß Bescheid!
Ausgerechnet dieser verdammte Kerl weiß Bescheid!
Er hat es selbst gesehen!
Und er hat ein Video gemacht!
Verdammt, jetzt ist alles vorbei!
Alles!
Und ich bin Schuld!
Verdammt, ich bin Schuld!
Wenn ich Zoe nicht geküsst hätte...
Wenn ich meine Tasche nicht in Zoes Auto vergessen hätte...
Wenn ich mich einfach von Zoe nach Hause fahren lassen hätte...
Wenn ich zu Zoes Geburtstag nichts organisiert hätte...
Wenn ich mich einfach an den von Direktorin Berger gewünschten Abstand gehalten hätte...
...wäre das alles nicht passiert...
Ich bin Schuld...ich habe alles kaputt gemacht...alles...
Nur mit Mühe unterdrücke ich die Tränen, die langsam in meinen Augen aufsteigen, während ich meinen Blick immer noch etwas gesenkt halte und auf die Stelle auf dem Pult starre, an der zuvor noch das Handy von Herrn Lüdenscheid gelegen hat.
Was mache ich denn jetzt nur?
Wenn er das Video weiterreicht...wenn bekannt wird, dass Zoe und ich...und wenn er herausfindet, dass Direktorin Berger auch Bescheid wusste...sie hat sich doch im letzten Jahr so oft für mich eingesetzt...verdammt, ich habe alles kaputt gemacht!
"Ich nehme an, dass du es nun nicht mehr abstreitest, dass dein Verhältnis zu Frau Jacobi...sagen wir mal...etwas intimer Natur ist, nicht wahr?", erwidert Herr Lüdenscheid und eine weitere Welle der Übelkeit durchzuckt meinen Körper, als ich meinen Kopf hebe und erneut in Herrn Lüdenscheids schadenfrohes selbstgefälliges Gesicht sehen muss.
Ich schlucke kurz, erwidere aber nichts auf seine Frage, die vermutlich sowieso nur rhetorisch gewesen ist.
"Nun", Herr Lüdenscheid seufzt tief und faltet seine Hände erneut vor sich auf dem Pult, "ich nehme an, dass du weißt, dass ich dazu verpflichtet bin, dieses Video der dafür zuständigen Behörde zukommen zu lassen. Aber ich glaube, dass wir uns auch anderweitig einig werden können..."
...was?
Für einen Moment halte ich inne, bevor ich mehrfach irritiert blinzle und meine Stirn runzle.
"Wie...wie meinen Sie das?", frage ich langsam.
"Na ja", Herr Lüdenscheid seufzt erneut tief und streicht mit zwei Fingern über seinen Bart, "ich wäre bereit das Video zu löschen und das, was ich gesehen habe, zu vergessen...aber natürlich auch nur unter bestimmten Bedingungen."
"Bedingungen?", ich schlucke schwer, während sich trotz meines Gefühlschaos gefährlich langsam Wut in mir breit macht, "Sie wollen mich erpressen?"
"Ach, erpressen ist so ein hässliches Wort", erwidert Herr Lüdenscheid und macht eine wegwerfende Handbewegung, "ich würde es vielmehr als Kompromiss bezeichnen. Ich lösche das Video und werde kein Wort darüber verlieren, was für ein Verhältnis du zu deiner Lehrerin pflegst und du erfüllst dafür die von mir gestellten Bedingungen."
"Und woher soll ich wissen, dass Sie das Video wirklich löschen oder dass sie wirklich nichts sagen?!"
"Glaub mir, sobald du meine Bedingungen erfüllt hast, wird sowohl das Video als auch mein Wissen über dein Verhältnis zu Frau Jacobi keinen besonders großen Wert mehr für mich haben." Das Grinsen von Herrn Lüdenscheid wird erneut etwas breiter. "Also, was ist?"
Ich hole tief Luft, während ich spüre, wie mein Körper vor Anspannung leicht zu zittern begonnen hat.
Verdammt...
"Was...", ich schlucke schwer und atme tief durch, "...was sind das denn für Bedingungen?"

- Zoe -

Wo ist sie nur?
Nervös trommle ich mit meinen Fingern auf die Oberfläche des Pultes, während ich meinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen lasse und dabei immer wieder an dem leeren Platz von Lola hängen bleibe.
Wo ist sie nur?
Ich habe sie doch heute kurz auf dem Pausenhof gesehen...
Sie ist also in der Schule...
Aber warum ist sie dann nicht hier?
Schwänzt sie etwa wieder?
Oder möchte sie nicht zu meinem Unterricht zu kommen wegen unserem gemeinsamen Wochenende?
Es ist ihr so schwer gefallen, sich von mir zu verabschieden...was nicht bedeutet, dass es für mich sehr viel leichter gewesen ist...aber ich bin wenigstens hier...
In diesem Moment ertönt ein kurzes, prägnantes Klopfen und die Tür wird, ohne meine Antwort abzuwarten, aufgezogen.
"Entschuldigen Sie bitte die Störung Ihres Unterrichts, Frau Jacobi, aber ich muss Sie für einen kurzen Moment sprechen. Es ist dringend."
Meine Augen weiten sich, als ich Mona im Türrahmen stehen sehe.
Natürlich ist es ungewohnt für mich, sie in einem derartig höflichen Tonfall mit mir reden zu hören, aber noch mehr irritiert mich ihre angespannte Körperhaltung und der eindringliche Blick in ihren Augen.
So habe ich sie noch nie gesehen...
"Ähm ja, natürlich", sage ich und stehe von meinem Stuhl auf, bevor ich mich kurz zu meinem Kurs wende, "ihr arbeitet in der Zeit an euren Aufsätze weiter. Ich bin gleich wieder da."
Während die Schüler zustimmendes Gemurmel und kurzes Nicken von sich geben, gehe ich zu Mona und trete zusammen mit ihr auf den Flur.
"Was ist denn passiert?", frage ich, nachdem Mona die Klassenzimmertür wieder hinter sich zugezogen hat und sich nun zu mir umdreht.
Ich schlucke, als ich den ernsten Ausdruck auf ihrem Gesicht sehe.
"Lola war gerade bei mir."
"Lola?"
"Ja. Oder ist dir etwa nicht aufgefallen, dass sie heute gar nicht in deinem Kurs sitzt?"
"Natürlich ist mir das aufgefallen", entgegne ich trotzig, auch wenn ich weiß, dass Mona diese Frage trotz des spöttischen Tonfalls nicht böse gemeint hat.
"Das hätte mich sonst auch sehr gewundert."
"Wirklich witzig", entgegne ich und verdrehe die Augen, bevor ich spüre, wie sich erneut Sorge in mir breit macht. "Warum...warum war Lola denn bei dir? Wollte sie irgendetwas? Hat sie irgendwelche Probleme? Und wo ist sie jetzt? Und..."
"Eins nach dem anderen, Süße", sagt Mona und hebt beschwichtigend die Hände, während ihr Gesicht weiterhin ernst bleibt. "Erst möchte ich eine Sache von dir wissen."
Ich schlucke.
Weiß sie etwa von Lolas und meinem Treffen an meinem Geburtstag?
Aber nein, wieso sollte Mona davon wissen?
Mal abgesehen davon, dass sie mich dann vermutlich schon längst darauf angesprochen hätte, würde Lola ihr mit Sicherheit nicht davon erzählen...
"Und...welche Sache wäre das?", frage ich nach kurzem Zögern.
"Hat Lola auf dich in den letzten Tagen irgendwie anders gewirkt als sonst? Oder hattet ihr beiden vielleicht Streit?"
"Was?!" Meine Augen weiten sich. "Nein, wir hatten keinen Streit! Wir..."
"Könntest du bitte noch lauter brüllen?!", unterbricht Mona mich scharf und funkelt mich wütend an, "ich bin mir sicher, dass der Klassenraum am Ende des Flures dich noch nicht gehört hat!"
Ich schlucke und kaue etwas zerknirscht auf meiner Unterlippe.
"Ich...entschuldige bitte, Mona."
"Schon gut, aber ich entnehme deiner Reaktion, dass dir an Lolas Verhalten in letzter Zeit nichts Ungewöhnliches aufgefallen ist, oder?"
"Ich...ähm...nein", ich schüttle den Kopf, "nein, mir ist nichts aufgefallen. Aber was hat das damit zu tun, dass Lola bei dir gewesen ist? Hat sie irgendetwas Ungewöhnliches gemacht?"
"Ungewöhnlich ist noch sehr harmlos ausgedrückt."
Der Tonfall in Monas Stimme und ihr nach wie vor ernster Gesichtsausdruck lassen mich noch unruhiger werden, als ich es ohnehin schon bin.
"Verdammt, was hat sie denn gemacht, Mona?!", stoße ich so leise wie möglich hervor.
Mona holt tief Luft und senkt für einen Moment ihren Blick, bevor sie wieder zu mir schaut.
"Lola hat mir gesagt, dass sie Anfang des Schuljahres das Auto von Herrn Lüdenscheid verunstaltet hat, so wie Herr Lüdenscheid und ich es auch damals insgeheim vermutet hatten."
"Was?" Mit einer Mischung aus Überraschung und Verwirrung runzle ich die Stirn. "Aber...aber wieso erzählt sie dir das jetzt?"
"Das habe ich sie auch gefragt, zumal es nicht einmal irgendwelche neuen Beweise oder Anhaltspunkte dafür gegeben hat, dass es Lola oder einer ihrer Freunde gewesen sein könnte. Aber Lola meinte, dass sie reinen Tisch machen wollte, bevor...bevor sie geht."
"Sie...geht?" Verwirrt hebe ich eine Augenbraue und schaue Mona verständnislos an. "Was soll das heißen?"
"Na ja, sie meinte damit...", Mona zögert einen Moment und mustert mich mit einem Blick, den ich nicht ganz deuten kann, bevor sie fortfährt, "sie meinte damit, bevor sie endgültig von der Schule abgeht."
"Aber...", ich schüttle den Kopf, in der Hoffnung irgendwie Ordnung in meine Gedanken zu bringen, "aber sie geht doch erst in einigen Monaten von der Schule ab, wenn sie ihren Abschluss hat, von daher..."
"Süße, kannst oder willst du mich nicht verstehen?", unterbricht Mona mich ungeduldig und tritt einen Schritt auf mich zu, während sie mich weiter eindringlich ansieht. "Lola ist vorhin in mein Büro gekommen, um mir mitzuteilen, dass sie von der Schule abgeht. Sie wird ihren Abschluss nicht machen. Sie bricht ab."

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt