# 12

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- Lola -

"Noch eine Geschichte!"
Mit einem leichten Seufzen schaue ich von Dannys Lieblingsbuch auf.
"Ich habe dir jetzt schon drei Geschichten vorgelesen", sage ich und rutsche von der Bettkante, um aufzustehen.
"Bitteeee."
Danny schiebt die Unterlippe vor und schaut mich aus großen Augen an, während nur sein Kopf unter der Bettdecke hervorschaut, die oben am Rand von seinen kleinen Fingern umfasst wird.
"Tut mir Leid, Großer", sage ich und beuge mich zu ihm hinunter, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken. "Aber ich muss noch die Küche aufräumen und noch eine Kleinigkeit für meine Nachhilfe erledigen."
Fragend legt Danny den Kopf schief.
"Was für eine Hilfe?"
"Nachhilfe", sage ich lächelnd und klappe sein Lieblingsbuch zu, bevor ich es wieder in das Regal zurückschiebe. "Das ist so was wie zusätzlicher Unterricht, den man bekommt, wenn man in einem Schulfach nicht so gut ist."
Was in meinem Fall zwar die Untertreibung des Jahrhunderts ist, aber das muss ich Danny ja nicht unbedingt erzählen...
"Oh." Seine Augen werden vor Erstaunen noch größer. "Und in welchem Fach bist du nicht so gut?"
"Französisch."
"Was ist das?"
"Das ist die Sprache, die man in Frankreich spricht."
"Und was ist dieses Frankenreich?"
Ich muss lachen. "Frankreich, Großer. Es ist ein anderes Land. Und Französisch ist die Sprache, die man dort spricht. Aber es gibt auch ein paar andere Länder, in denen man Französisch als zweite Landessprache spricht."
Danny richtet sich in seinem Bett auf und schaut mich mit offenem Mund an.
"Wie soll das denn gehen? Spricht man dann die beiden Sprachen gleichzeitig? Muss man die dann irgendwie mischen?"
Ich muss erneut lachen und streiche Danny über den Kopf.
"Nein. In der Regel sprechen alle die Sprache, die normalerweise in dem jeweiligen Land gesprochen wird. Aber es kann auch bestimmte Bereiche oder Regionen in einem Land geben, in denen eine andere Sprache eher gesprochen wird. Das ist dann die zweite Landessprache."
"Ach so. Und deshalb lernst du also diese Franz-Sprache? Damit du die Leute dort verstehst?"
Ich nicke. "Genau. Und weil ich das noch nicht so gut kann, hilft mir Frau Jacobi dabei."
"Wer ist das?"
Überrascht runzle ich die Stirn. "Ähm, meine Lehrerin. Die, die du am Freitag bei Xenia kennengelernt hast."
"Ach so!" Dannys Mundwinkel heben sich zu einem breiten Grinsen. "Du meinst Zoe!"
"Äh...ja..."
Dass er Frau Jacobi so einfach beim Vorname nennt, irritiert mich zwar etwas, aber wiederum hat sie sich ihm ja auch so vorgestellt, von daher ist es auch irgendwie gerechtfertigt.
"Dann seid ihr also doch Freunde!"
"Äh...", ich blinzle mehrfach, "was?"
"Sie hilft dir, also seid ihr Freunde!"
Ich weiß nicht, ob ich über Dannys Logik lachen oder den Kopf schütteln soll. Stattdessen räuspere ich mich.
"Nein, Danny. Wie gesagt, Frau Jacobi ist meine Lehrerin. Es ist ihre Aufgabe, mir etwas beizubringen."
"Oh", für einen Moment verschwindet das Grinsen von Dannys Gesicht und macht einem fragenden Ausdruck Platz, "dann haben auch andere diese...Nach...hilfe...bei ihr?"
"Ähm...", ich zögere kurz und schüttle dann den Kopf, "nein, soweit ich weiß bin ich die Einzige, die von ihr Nachhilfe bekommt."
"Dann habe ich doch Recht!", ruft Danny und grinst nun wieder zufrieden, "ihr seid Freunde!"
Ich seufze ergeben. "Wenn es dich glücklich macht..."
"Ja!" Danny nickt fröhlich. "Das ist toll! Zoe ist echt nett!"
Ich muss über seine Begeisterung lächeln. "Ja, das ist sie."
"Und echt hübsch!"
"Was?"
"Findest du nicht?"
"Ich...ähm..."
Ich schlucke und weiche Dannys forschendem Blick aus, indem ich am Ärmel meines Oberteils zupfe. Nicht unbedingt die beste Methode, um einem Gespräch auszuweichen, aber vielleicht genügt es ja in Dannys Fall.
"Lola?"
"J-Ja?"
"Findest du Zoe nicht hübsch?"
Ich hätte wissen müssen, dass er hartnäckig bleibt...
"Ich...ähm...doch", sage ich und spüre, wie meine Wangen wärmer werden, "sie ist hübsch. Sehr sogar."
Auch wenn ich den letzten Teil nur leise murmle, scheint Danny meine Antwort zufrieden zu stellen.
"Ich wusste es!", sagt er triumphierend und reckt dabei stolz sein Kinn etwas nach oben, "ich habe direkt gesehen, dass du sie magst!"
Toll, wenn sogar mein fünfjähriger Bruder das mitbekommt, bin ich wirklich noch schlechter im Kaschieren von Gefühlen als ich dachte. Wobei er wahrscheinlich nur glauben wird, dass ich Frau Jacobi höchstens auf freundschaftlicher Ebene mag...was natürlich auch der Fall ist...denke ich...
Ich seufze leicht.
Wieso mache ich mir darüber überhaupt Gedanken? Sie war verheiratet. Sie steht also bestimmt nicht mal auf Frauen. Außerdem habe ich mich ja ohnehin schon genug mit meiner Bemerkung über ihren Exmann blamiert. So rot wie sie geworden ist, war ihr das bestimmt total unangenehm...
Und abgesehen davon bin ich ihre Schülerin, von daher kann ich das eigentlich sowieso vergessen...
Ich räuspere mich und deute auf die Zimmertür hinter mir.
"Ich muss jetzt wirklich Aufräumen, Großer. Und du musst jetzt wirklich schlafen. Es ist schon spät."
"Na gut", sagt Danny und reibt sich kurz über die Augen, bevor er sich wieder unter seine Bettdecke kuschelt. "Ich versuch's."
"Du schaffst das schon", sage ich und streiche ihm nochmal durch seine Haare, "schlaf gut."
Dann gehe ich zur Tür, öffne sie, knipse das Licht aus und schließe die Tür mit einem leisen Klicken wieder hinter mir.
Ich weiß, dass Danny in spätestens einer Viertelstunde eingeschlafen sein wird und ich bin mehr als froh darüber, dass er einen sehr festen Schlaf hat. So wird es für mich nachher kein Problem sein, wieder zurück ins Zimmer zu schleichen und mich dort in mein Bett zu legen.
Zuerst muss aber noch aufgeräumt werden.
Doch bevor ich in die Küche gehe, drücke ich erst noch die Tür zum Zimmer meiner Mutter auf.
"Mama?", flüstere ich und horche in den dunklen Raum, aber sie antwortet nicht.
Stattdessen höre ich regelmäßiges Atmen, welches ab und an von einem leichten Schnarchgeräusch begleitet wird.
Vorsichtig schleiche ich in den Raum, bis ich beim Nachttisch meiner Mutter angekommen bin, der neben ihrem Bett steht. Dabei fällt mein Blick auf sie.
Ihre ungewaschenen blonden Haare sind vom Schlaf zerzaust, ihre Arme in einer akrobatischen Verrenkung auf dem Kissen ausgebreitet und aus ihrem leicht geöffneten Mund dringen die besagten Schnarchgeräusche. Genauso wie eine leichte Alkoholfahne, die mir entgegenschwebt.
Ich verziehe das Gesicht und schaue zu dem Nachttisch, wo ein Teller steht, auf dessen Oberfläche sich nur noch ein paar Krümel befinden.
Wenigstens hat sie vorhin gegessen...wann auch immer das gewesen ist...
Ich greife nach dem Teller, ebenso wie nach dem leeren Wasserglas, das daneben steht, und schleiche wieder zurück.
Auf dem Weg nach draußen stoße ich in der Dunkelheit mit dem Fuß gegen einen Gegenstand am Boden und es ertönt ein klirrendes Geräusch.
Erschrocken halte ich inne, aber der Atem meiner Mutter bleibt ruhig und gleichmäßig. Sie scheint es also nicht mitbekommen zu haben. Wahrscheinlich hat Danny den festen Schlaf von ihr geerbt.
Nachdem ich tief Luft geholt habe, um mein vor Aufregung hämmerndes Herz zu beruhigen, schaue ich nach unten und suche nach dem Gegenstand, gegen den ich gestoßen bin. Ich brauche nur einen Augenblick, um zu erkennen, dass es sich um eine halbvolle Wodkaflasche handelt.
Mein Blick verfinstert sich und ich schaue zurück zu meiner Mutter, die immer noch friedlich in ihrem Bett schläft.
Das könnte dir so passen...
Während ich das Glas auf der Telleroberfläche balanciere, hocke ich mich hin und greife mit der anderen Hand nach der Flasche, nur um unter dem Bett eine weitere ungeöffnete Flasche zu sehen, die neben ein paar anderen leeren Flaschen auf dem Boden liegt.
Mit noch finsterem Blick greife ich auch nach der ungeöffneten Flasche und schleiche mich so schnell wie möglich aus dem Zimmer, nur um in der Küche die beiden Flaschen aufzuschrauben und deren Inhalt ins Spülbecken zu kippen, neben dessen Anrichte sich dreckiges Geschirr stapelt. Dann werfe ich die nun leeren Flaschen in den Mülleimer und reiße das Fenster zum Lüften auf.
Wenn sie glaubt, dass sie das Geld von Xenias Vorschuss einfach so versaufen kann, irrt sie sich aber gewaltig...verdammt, der Vorschuss!
Sofort greife ich nach der Kaffeedose und schütte die darin verstauten Scheine und Münzen auf den Küchentisch. Ich muss nicht einmal nachzählen, um zu wissen, dass etwa zwanzig Euro fehlen.
"Mist, Mist, Mist!", fluche ich leise und stecke erst die Scheine und dann die Münzen in meine Hosentasche, "ich bin so dumm! Warum habe ich das Geld da überhaupt rein gelegt?! Ich könnte mich ohrfeigen!"
Mit einem frustrierten Stöhnen schließe ich die Augen und fahre mir mit beiden Händen durch die Haare. Dann trete ich an das geöffnete Fenster und greife nach der Zigarettenpackung, die auf der Fensterbank liegt.
"Das kann doch alles nicht wahr sein", murmle ich und fische eine Zigarette aus der Packung, bevor ich sie mit dem Feuerzeug anzünde, das neben der Packung liegt.
Nach ein paar tiefen Zügen merke ich, dass sich meine Nerven wieder etwas beruhigen, aber meine Wut ist nach wie vor vorhanden.
Deine Eltern können wirklich stolz auf dich sein, dass du dich so gut um deinen Bruder kümmerst.
Ich lache bitter auf.
Das hätte Frau Jacobi sicher nicht gesagt, wenn sie meine Mutter nur ansatzweise kennen würde. Meine Mutter hat ja nicht mal Stolz gegenüber sich selbst, wieso sollte sie dann stolz auf Danny oder mich sein können?
Ich seufze tief und schließe meine Augen.
Ich muss hier weg.
Zusammen mit Danny.
Wir beide müssen hier endlich weg.
Und dabei habe ich früher immer gedacht, wir wären jetzt um diese Zeit schon längst weg.
Wie lange habe ich die Wochen und Monate bis zu meinem 18. Geburtstag gezählt, nur um im Nachhinein festzustellen, dass mir dieses Alter ohne einen Abschluss oder eine andere Perspektive so gut wie nichts bringt.
Es ist unfair. Einfach nur so verdammt unfair!
Ich öffne die Augen wieder und drücke die Zigarette im Aschenbecher aus, der ebenfalls auf der Fensterbank steht.
Aber ich werde diesen Abschluss schaffen!
Und dann arbeite ich bei Xenia und besorge mir eine Wohnung und ziehe zusammen mit Danny dort ein. Oder wir ziehen woanders hin.
Ganz egal, hauptsache weg von hier.
Weg von ihr.
Ich kann nicht länger Rücksicht auf sie nehmen. Fünf Jahre sind mehr als genug! Wenn sie sich nicht helfen lassen will, ist das ganz allein ihre Sache. Aber ich lasse nicht zu, dass ihr Verhalten irgendeinen negativen Einfluss auf Danny hat. Ich will nicht, dass eines Tages das Jugendamt vor der Tür steht und ihn ins Heim steckt. So wie bei mir damals, als sie mal wieder in einer ihren extremen Trinkphasen gesteckt hat. Und auch wenn es nur für etwas mehr als ein Jahr gewesen ist und es ihr nach dem Entzug und der Therapie wieder besser ging und ich wieder zu ihr konnte, war es trotzdem keine besonders angenehme Erfahrung.
Zumal das alles auch wieder von vorne losgegangen ist, als Dannys Vater sie verlassen hat...
Nein, wenn ich gehe, dann nehme ich Danny mit. In ihrem momentanen Zustand wird ihr kein Amt der Welt das Sorgerecht zusprechen.
Aber so lange muss ich noch durchhalten und vor allem diesen verdammten Abschluss schaffen. Und das werde ich!
Ich muss mich dafür nur in Französisch verbessern...
Entschlossen greife ich in meine Hosentasche und ziehe mein Handy hervor. Eigentlich ist es das alte Handy von Rohan, aber als er das alte Handy von seinem Cousin bekommen hat, hat er mir seins geschenkt.
Ich entsperre den schon etwas zerkratzten Handybildschirm und rufe nach ein paar kurzen Bewegungen über den Touchscreen eine der vielen Musikstreamingplattformen auf.
Ich habe zwar weder die Zeit noch die Nerven mir einen Film oder ein Buch auf Französisch anzutun, aber so ein bisschen Musik werde ich ja wohl noch aushalten.
Nachdenklich beiße ich mir auf die Unterlippe, als ich versuche, mich an die Sänger und Bands zu erinnern, die Frau Jacobi mir genannt hat, aber mir fiel nur noch diese eine Band ein, über die ich mich etwas lustig gemacht hatte. Superbus...
Ich zögere kurz, gebe dann aber doch den Bandnamen in die Suchleiste ein und hebe kurz darauf die Augenbrauen, als mir eine ganze Reihe von Songs und Alben vorgeschlagen wird.
Wenigstens habe ich etwas Auswahl.
Seufzend scrolle ich weiter durch, bis mein Blick mit einem Mal an einem Songtitel hängen bleibt und meine Augen sich vor Überraschung etwas weiten.
Dann muss ich grinsen.
Sieht so aus, als hätte ich den perfekten Song für mich gefunden...

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt