# 3

6.6K 289 9
                                    

- Lola -

"Na, Schätzchen?", begrüßt mich Xenia, als ich ihre Kneipe durch die quietschende Tür mit dem Glockenspiel betrete. "Ich habe schon gehört, dass du dich bei eurer Direktorin heute mal wieder sehr beliebt gemacht hast."
"Ach, die Berger war nur genervt, dass sie mir die Aktion mit Lüdenscheids Auto nicht nachweisen konnte", entgegne ich und streife durch die Kneipe zu dem Bartresen, hinter dem Xenia steht und ein paar Gläser poliert.
Sie ist schon etwas älter, etwa Anfang sechzig, und einen halben Kopf kleiner als ich. Doch trotz dieser recht kleinen und auch schmalen Statur ist sie weder schwach noch gebrechlich. Im Gegenteil. In ihrer Jugend hatte sie an diversen landesweiten Karate-Meisterschaften teilgenommen und war mehrfach auf dem Siegertreppchen gelandet. Eingerahmte Fotos an den Wänden der Kneipe erinnern daran, ebenso wie an Xenias Wanderungen in den Anden, an ihren Motorrad-Trip auf der Route 66 oder an ihren Schnorchelausflug vor der Küste Australiens.
Ich glaube, es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem Xenia noch nicht gewesen ist.
Als ich mich auf einen der Hocker vor dem Tresen setze, sehe ich, wie Xenia mich belustigt aus ihren grünen Augen anschaut.
"Aber natürlich war eure Direktorin nur genervt. Und ich bin mir absolut sicher, dass du ihr keinen anderen Grund dafür gegeben hast, dich direkt am ersten Tag nach den Ferien mal wieder zum Nachsitzen zu Verdonnern."
"Deinen sarkastischen Unterton kannst du dir sparen", sage ich und verdrehe die Augen.
Xenia lacht.
"Ich kenne nun mal dich und deine scharfe Zunge. Und um ehrlich zu sein finde ich es gut, dass du für die Aktion mit dem Auto eures Lehrers zumindest einen kleinen Denkzettel bekommen hast."
"Was?"
"Jetzt tu nicht so unschuldig." Xenia stellt das frisch polierte Glas in eines der Regale hinter ihr und greift nach einem weiteren unpolierten Glas. "Ich weiß genau, dass du die Idee für diese Aktion hattest."
"Na und? Der Arsch hat es doch verdient!"
"Lola!"
"Aber es stimmt doch!" Trotzig verschränke ich die Arme vor der Brust. "Wegen dem Penner ist Marvin sitzengeblieben und muss jetzt noch ein Jahr mehr in dieser beschissenen Schule verbringen! Da wird dieser Vollidiot es doch wohl verkraften, wenn wir sein potthässliches Auto ein bisschen dekorieren."
"Vollkommen demolieren wäre wohl der passendere Ausdruck dafür", kommentiert Xenia und hebt vielsagend eine Augenbraue. "Ich dachte, du wolltest solche Sachen nicht mehr machen."
"Aber der Lüdenscheid hat doch angefangen..."
"Das ist keine Entschuldigung für dein Verhalten, Lola. Und das weißt du auch."
Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe und schaue auf meine Hände, während Xenia mich mit strengem Blick mustert.
"Kann sein...", murmle ich nach einer Weile.
"Es ist so." Xenia lächelt nun wieder und stellt ein weiteres poliertes Glas ins Regal. "Ich meine das ja auch nicht böse. Ich will nur nicht, dass ihr vier mal wieder in Schwierigkeiten geratet wegen so einer dämlichen Aktion. Erinnere dich nur mal an die Graffitis, die ihr in der alten Lagerhalle gesprüht habt."
"Da waren wir zwölf."
"Oder als ihr im Kiosk die Scheiben eingeschlagen habt."
"Der Typ hat Rohans kleine Schwester angeschrieen, weil sie mit Kreide auf dem Boden vor seinem Laden gemalt hat. Und sie war damals erst vier! Weißt du, wie schlimm sie geweint hat?"
"Oder an die Schlägerei mit diesem Till und seinen Jungs."
Ich schnaube.
"Willst du jetzt jede einzelne nicht ganz korrekte Sache, die ich jemals in meinem Leben gemacht habe, aufzählen?!"
"Dann würde ich noch für eine sehr lange Zeit hier stehen und reden. Nein, ich will darauf hinaus, dass du nicht vergisst, was du dir für dieses letzte Schuljahr vorgenommen hast und was wir beide vereinbart haben."
"Das habe ich nicht vergessen!"
"Dann verhalte dich auch so." Xenia schaut mir fest in die Augen, während sie weiterspricht. "Ich habe dir zwar zugesagt, dass du hier bei mir als feste Kraft und nicht mehr nur als Aushilfe arbeiten kannst, sobald dieses Schuljahr vorbei ist. Aber das Angebot gilt nur, wenn du deinen Abschluss schaffst."
Murrend schaue ich auf meine Hände und nicke. "Ich weiß."
"Und du weißt auch, dass du gute Noten brauchst, um deinen Abschluss noch zu bekommen."
"Ja", ich schnaube genervt, "ich weiß."
"Und das Auto eines Lehrers mit Autolack zu überschütten und die Scheiben einzuschlagen ist meiner Meinung nach kein guter Weg, um dieses Ziel zu erreichen."
"Ist ja gut!" Wütend schlage ich mit der Hand auf den Bartresen. "Ich hab's ja kapiert!"
"Wow, was ist denn hier los? Da sind wir mal gerade fünf Minuten im Keller und kommen zum Beginn des Dritten Weltkriegs wieder."
Auch ohne Habibs anschließendes Lachen über seinen eigenen Witz, hätte ich gewusst, dass der Kommentar von ihm kommt.
Ich schaue über meine Schulter hinter mich und sehe, wie er, Rohan und Marvin mit jeweils einem Bierkasten in den Händen durch den Holzperlenvorhang treten, der nach unten in den Keller führt.
"Glaub mir, Habib. Wenn hier gerade der Dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre, hättet ihr drei euch bis heute Abend unten im Keller versteckt. Lola und ich hatten nur ein einfaches Gespräch unter Frauen."
Grinsend zwinkert Xenia mir zu und streift mir danach versöhnlich mit der Hand über den Arm.
Ich seufze tief und nicke langsam, bevor ich ihr Grinsen schließlich erwidere. Ich habe ihr noch nie lange böse sein können und außerdem weiß ich, dass sie es ja nur gut meint. Auch wenn sie mich damit manchmal ziemlich in den Wahnsinn treibt.
"Oh, wieso habt ihr nicht auf mich gewartet? Ich bin ein absoluter Frauengespräch-Experte!"
Habib lacht erneut und stellt seinen Kasten unter dem Tresen ab, während Rohan und Marvin ihm folgen.
"Na sicher, Bibi", sagt Rohan und stellt seinen Kasten neben den von Habib, "als ob du was Sinnvolles dazu beitragen könntest. Du kriegst ja nicht mal ansatzweise die Fresse auf, wenn du mit einem Mädchen redest."
"Dafür renne ich wenigstens nicht seit Ewigkeiten demselben Mädchen hinterher, was Romeo?", entgegnet Habib und grinst Rohan frech an.
Leichte Röte steigt in Rohans Gesicht und ich sehe wie sein Blick kurz in meine Richtung wandert, bevor er zurück zu Habib schaut.
"Du kleiner Pisser!", knurrt er und stürmt auf Habib zu, der erst ungeschickt zur Seite stolpert und dann quer durch die Kneipe nach draußen rennt, während Rohan ihm dicht auf den Fersen folgt.
Dass Rohan Gefühle für mich hat, ist in unserer Gruppe ein offenes Geheimnis.
Wahrscheinlich seit dem Kindergarten, als er mir seine gelbe Schaufel geschenkt hatte, aber das ist nur meine Vermutung. Als wir dann später Habib und Marvin kennengelernt hatten, hatten sie es auch irgendwann gemerkt und Rohan dann ständig damit aufgezogen. Zumindest Habib.
Umso mehr hatte ich ein schlechtes Gewissen, als ich ihnen mit 14 Jahren gesagt hatte, dass ich auf Frauen stehe. Ausschließlich auf Frauen. Aber selbst wenn ich auf Männer stehen würde, würde ich vermutlich nichts mit Rohan anfangen wollen. Er ist für mich nun mal wie ein älterer Bruder. Das war er schon immer.
Ich stütze meinen Kopf in meine Hand und sehe Marvin zu, wie er den Bierkasten in seinen Händen ebenfalls unter den Tresen schiebt.
"Und wie war dein Tag, Marv?"
"Schon g-ganz o-okay." Er richtet sich auf und fährt sich durch sein stets zerzaustes hellblondes Haar. "D-Die anderen Schüler sind n-nett, aber ich wäre l-l-lieber bei e-euch. Aber immerhin h-habe ich dieses Jahr nicht den L-Lüdenscheid."
Er grinst mich schief an und ich muss lachen.
"Sei froh! Mich hätte der Kerl vorhin am liebsten umgebracht."
"D-Dafür wäre er nicht schnell g-genug."
Ich lache erneut und Marvin grinst noch breiter.
Wenn man unsere Gruppe beschreiben müsste, wäre Marvin definitiv unser Sonnenschein.
Im Gegensatz zu Habibs ständigen schlechten Witzen, schafft Marvin es immer, uns mit seiner fröhlichen und leicht verpeilten Art zum Lachen zu bringen. Wobei die Betonung auf verpeilt liegt, denn Marvin ist leider nicht die hellste Kerze auf der Torte, wie man so schön sagt. Er versteht die Dinge nicht in unbedingt immer direkt auf Anhieb, hat aber ein Herz aus Gold.
Trotzdem gibt es immer wieder diese erbärmlichen Arschlöcher, die sich darüber oder über sein Stottern lustig machen. Herr Lüdenscheid ist eines dieser Arschlöcher.
Das gesamte letzte Schuljahr über hat er Marvin ständig nach vorne an die Tafel geholt und hat Erklärungen und Rechenwege für irgendwelche Matheaufgaben verlangt, die mehr Buchstaben als Zahlen beinhaltet haben. Und im Anschluss hat er sich darüber amüsiert, dass Marvin die Antwort nicht wusste, genauso wie über sein Stottern. Die Krönung an der ganzen Sache war jedoch gewesen, als er am Ende des Schuljahres dafür gesorgt hatte, dass Marvin das Schuljahr wiederholen muss.
Rohan, Habib und ich haben einen Großteil unseres Sommers damit verbracht, Rachepläne für Herrn Lüdenscheid zu schmieden und als wir alle in der Autowerkstatt von Habibs Onkel ausgeholfen und die alten Dosen mit Autolack gefunden haben, war unser Plan geboren.
Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich Herrn Lüdenscheid vorhin am liebsten schön unter die Nase gerieben, dass wir seinem Auto diesen neuen Look verpasst haben.
"W-Wie war eigentlich das N-Nachsitzen?", fragt Marvin und lehnt sich gegen den Bartresen.
"Oh, ziemlich langweilig", sage ich und verdrehe die Augen. "Ich habe eigentlich nur darauf gewartet, dass ich mich verziehen kann. Und diese neue Lehrerin, die da die Aufsicht hatte, war auch echt nervig."
"Neue L-Lehrerin?"
Ich nicke. "Für Französisch oder so. Betrifft dich also nicht, du Glückskind", sage ich und zwinkere ihm zu.
"U-Und wieso war sie nervig?
"Sie war so...", ich zögere und zucke nach einer Weile mit den Schultern. "Keine Ahnung, ich kann es nicht erklären. Irgendwas an ihr hat mich einfach extrem genervt."
"Wahrscheinlich ist sie nicht auf deine Provokationen angesprungen, oder?", fragt Xenia mit verschmitztem Lächeln, woraufhin ich ihr die Zunge rausstrecke.
Marvin lacht, doch kurz darauf nimmt sein Gesichtsausdruck verwirrte Züge an.
"Wieso bist du eigentlich schon h-hier?", fragt er und schaut auf seine Armbanduhr. "Das Nachsitzen müsste doch eigentlich noch l-laufen."
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Xenia mir wieder einen strengen Blick zuwirft und ziehe meinen Kopf schuldbewusst etwas zwischen die Schultern.
"Ich bessere mich ab morgen, okay?", sage ich ohne Xenia anzuschauen und rutsche vom Hocker, "ich muss jetzt auch Danny vom Kindergarten abholen. Wir sehen uns! Spätestens am Freitag!"
Mit schnellen Schritten gehe ich wieder durch die Kneipe in Richtung Ausgang.
Das ist ja wirklich ein toller Start in mein letztes Schuljahr.

- Zoe -

"Danke nochmal für die Einladung."
"Ach, Unsinn." Mona winkt ab und nimmt einen weiteren Schluck von ihrem Weinglas.
"Außerdem mache ich das ganze ja auch nicht ohne Hintergedanken. Schließlich darf ich es nicht riskieren, dass du es dir nach diesem Tag wieder anders überlegt und morgen doch nicht an unserer Schule anfängst."
Auf Monas Augenzwinkern hin verdrehe ich die Augen und rolle etwas Pasta auf meine Gabel.
"Wenn du glaubst, dass mich eine aufsässige Oberstufen-Schülerin abschreckt, kennst du mich aber nicht besonders gut", sage ich und schiebe mir die Gabel in den Mund.
Parallel mache ich mir eine mentale Notiz, dass ich mir dieses italienische Restaurant unbedingt merken muss. Diese Pasta ist einfach nur fantastisch!
"Allerdings", sage ich und tupfe meinen Mund leicht mit einer Serviette ab, "war ich schon ziemlich überrascht, dass Lola einfach durchs Fenster abgehauen ist."
"Ich nicht", entgegnet Mona und stellt ihr Weinglas wieder ab, "um ehrlich zu sein, hätte ich eigentlich mit so einer Aktion von ihr rechnen müssen."
"Echt?"
"Ja." Mona nickt. "Ich bin ja selber erst seit einem Jahr Direktorin an dieser Schule, aber ich kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass ich, abgesehen von Tina, Lola wohl am häufigsten in dieser Zeit gesehen habe."
Erstaunt hebe ich die Augenbrauen.
"Hat sie so oft etwas angestellt?"
"Das kann man wohl sagen." Mona lacht leicht. "Aber das war nichts im Vergleich zu den Geschichten, die Tina mir erzählt hat. Absichtlich ausgelöster Feueralarm. Überflutete Waschräume. Eingeworfene Fensterscheiben. Knallfrösche im Lehrerzimmer. Das zerstörte Chemielabor. Ständige Schlägereien auf dem Schulhof."
"Wie bitte?"
"Ja", Mona seufzt, "Lola und ihre Freunde haben es faustdick hinter den Ohren."
"Ihre Freunde?"
Mona nickt. "Drei Jungs. Rohan, Habib und Marvin. Ähnlich vorlaut und rebellisch wie Lola, zumindest Rohan und Habib. Aber soweit ich weiß, hat keiner von den Jungs Französisch, also bleibst du von ihnen verschont."
"Sehr beruhigend", murmle ich und nehme einen Schluck von meinem Wein. "Ich werde Lola jedenfalls morgen darauf ansprechen. Es kann nicht sein, dass sie einfach aus dem Nachsitz-Raum verschwindet."
"Du meinst, dass sie unter deiner Aufsicht aus dem Nachsitz-Raum verschwindet", neckt Mona mich, woraufhin ich ihr einen finsteren Blick zuwerfe.
"Wer hat mich denn aus dem Raum geholt?"
"Okay, der Punkt geht an dich. Aber ich bezweifle ehrlich gesagt, dass du morgen mit Lola sprechen kannst."
"Und wieso?"
"Weil Lola bestimmt morgen die Schule schwänzen wird."
"Schwänzen?"
"Ja. Zumindest hat sie das im letzten Jahr regelmäßig gemacht. Und laut Tina auch in den Jahren davor. Und nach dem heutigen Tag würde es mich nicht überraschen, wenn sie diese Tradition morgen weiterführt. Auch wenn ich gehofft hatte, dass sie in diesem Jahr damit aufhören würde. Immerhin ist es ihr letztes Schuljahr und wenn sie ihren Abschluss noch bekommen möchte, braucht sie gute Noten, um die entscheidenden Punkte zu erzielen. Darüber hatte ich auch vor den Ferien mit ihr gesprochen und sie schien überraschend einsichtig und auch motiviert zu sein, aber nachdem, was sie sich heute geleistet hat..." Mona seufzt und schüttelt den Kopf.
"Es muss doch einen Grund geben, warum sie sich so verhält", sage ich und schiebe meinen mittlerweile leeren Teller ein Stück von mir weg.
"Nicht alles hat einen tiefen psychologischen Grund, Süße", sagt Mona und streicht sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Dutt gelöst hat, hinters Ohr.
"Was ist mit ihren Eltern? Hast du mal versucht, mit ihnen zu sprechen?"
"Oh, ich habe mehrfach versucht, Lolas Eltern zu kontaktieren. Sowohl postalisch als auch telefonisch, aber ohne Erfolg."
"Vielleicht gibt es Probleme in ihrer Familie?"
Mona zuckt mit den Schultern. "Das weiß ich nicht. Außer, dass Lola in einem der sozialen Brennpunkte der Stadt wohnt und sie und ihre Freunde schon ein paar Mal Schwierigkeiten mit der Polizei hatten, weiß ich nichts über sie. Und wenn ich in der Vergangenheit mal Fragen zu ihren Eltern oder im Allgemeinen zu ihrem Leben gestellt habe, hat sie immer dicht gemacht oder mich ignoriert."
"Verstehe", murmle ich nachdenklich und lege meine Serviette neben den Teller.
Ich rufe mir erneut den heutigen Nachmittag ins Gedächtnis.
Wie Lola sich mit ihren Füßen auf der Tischkante abgestützt und auf den Stuhlhinterbeinen balanciert hat.
Wie sie mit ihrem provozierenden Lächeln ihre Zigarette angezündet hat.
Und wie sie mich, kurz bevor Mona wieder zu uns gestoßen war, angesehen hat. Dieser Blick aus ihren blauen Augen, den ich auch jetzt immer noch nicht wirklich deuten kann.
Was steckt nur dahinter?

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt