# 18

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- Lola -

Ich hätte sie küssen sollen.
Frustriert nehme ich einen Zug von meiner Zigarette und puste den Rauch durch das geöffnete Küchenfenster nach draußen, während ich in den dunklen Nachthimmel schaue.
Ich hätte sie einfach küssen sollen!
Warum habe ich so lange gezögert?
Wieso habe ich diese Chance nicht genutzt?
Es wäre der perfekte Moment gewesen!
Kopfschüttelnd nehme ich einen weiteren, etwas tieferen Zug und lehne mich gegen den Fensterrahmen.
Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Das zwischen uns, was auch immer das gerade ist.
Ich spüre, wie meine Mundwinkel sich zu einem leichten Lächeln heben.
Ich bin mir sicher, dass sie den Kuss erwidert hätte.
Wie sie sich zu mir vorgelehnt hat.
Wie sie immer schwerer geatmet hat.
Wie sie mich angesehen hat.
Das alles war mehr als eindeutig.
Wärme durchströmt meinen Körper bei dem Gedanken und ich hole tief Luft, um mein klopfendes Herz zu beruhigen. Gleichzeitig spüre ich, wie das Lächeln auf meinen Lippen immer breiter wird, bis ich schließlich leicht auflachen muss.
Oh Mann, mich hat's echt erwischt.
Mit leichtem Druck beiße ich mir auf die Unterlippe, während ich weiter nach draußen in die dunkle Nacht schaue. Ein sanfter Windstoß strömt durch das geöffnete Fenster in die Küche und kühlt mein erwärmtes Gesicht auf angenehme Weise.
Meine Gedanken bleiben jedoch weiterhin bei Frau Jacobi. Bei Zoe...
Ich seufze.
Danny weiß gar nicht, wie sehr ich ihn darum beneide, dass es ihm so leicht fällt, Frau Jacobi einfach beim Vornamen zu nennen und sie wie eine gute Freundin zu behandeln. Aber zum einen ist er ja auch erst fünf Jahre alt und zum anderen ist sie nicht seine Lehrerin.
Auch wenn ich ehrlich gesagt manchmal vergesse, dass sie meine Lehrerin ist.
Ob ihr das manchmal auch so geht?
Sonst hätte sie mir doch bestimmt nicht angeboten, mich zu Dannys Kindergarten und zum Krankenhaus zu fahren und auch noch mit mir zusammen zu warten, bis Danny vom Röntgen wiederkommt. Das übersteigt doch mit Sicherheit das normale pädagogische Engagement.
Nachdenklich verziehe ich das Gesicht und nehme einen letzten Zug von meiner Zigarette, bevor ich sie im Aschenbecher ausdrücke.
Aber was bedeutet das jetzt alles für uns?
Ich erinnere mich, wie nervös und durcheinander sie gewesen ist, nachdem ich das Gespräch mit dem Arzt beendet hatte und zusammen mit Danny wieder zu ihr zurückgegangen war. Die ganze Zeit über ist sie meinem Blick ausgewichen, aber ihre Hand ist immer wieder über den Bereich ihres Unterarms gefahren, den ich zuvor im Vorbeigehen berührt hatte.
Trotz ihrer Unsicherheit und Unruhe hatte sie uns angeboten, uns noch nach Hause zu fahren, was ich aber abgelehnt hatte, auch wenn Danny von meiner Entscheidung überhaupt nicht begeistert gewesen ist.
Ich bin mir aber sicher, dass Frau Jacobi insgeheim etwas erleichtert über meine Entscheidung gewesen ist, denn es war das einzige Mal, dass sie während unserer Unterhaltung aufgesehen und mich sogar leicht angelächelt hatte.
Aber wie wird Frau Jacobi...Zoe...mich jetzt behandeln?
Wird sie mit mir darüber reden?
Wird sie mir aus dem Weg gehen?
Wird sie so tun, als wäre alles wie immer und als hätte es diesen Moment zwischen uns nicht gegeben?
Wird sie vielleicht sogar aktiv bestreiten, dass da überhaupt etwas gewesen ist?
Um ehrlich zu sein, kann ich das alles gerade nicht so wirklich einschätzen.
Ein entschlossenes Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus.
Aber für welchen Weg sie sich auch immer entscheidet, ich werde es ihr in jedem Fall sehr schwer machen, diesen Moment zwischen uns und die damit verbundenen Gefühle zu vergessen.
Darauf kann sie sich verlassen...
"Du bist noch wach?"
Überrascht drehe ich mich um und sehe, wie meine Mutter, eingehüllt in ihren übergroßen Morgenmantel, im Türrahmen zur Küche steht. Der Blick ihrer blauen Augen ist fragend, aber trüb, und sie hat die Arme vor der Brust verschränkt, so als ob sie frieren würde.
"Du ja auch", entgegne ich trocken und schließe das Fenster. Dann lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Fensterbank und sehe meiner Mutter zu, wie sie mit tapsenden Schritten zum Küchentisch geht und sich auf einen davorstehenden Stuhl fallen lässt. Als sie meinen Blick bemerkt, schaut sie mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an.
"Was ist?"
"Ich versuche einzuschätzen, ob du betrunken bist oder nicht", sage ich, während ich ihrem Blick ohne Probleme standhalte, auch wenn meine Antwort nicht ganz stimmt.
Ich weiß, dass sie nicht betrunken ist, weil sie gar nicht betrunken sein kann.
An dem Abend, als ich die Wodkaflaschen in ihrem Zimmer gefunden habe, bin ich etwas später nochmal in ihr Zimmer zurückgeschlichen und habe in ein paar anderen Ecken noch drei weitere Flaschen gefunden, deren Inhalt ich auch gleich in den Abfluss geschüttet habe. Und neue Flaschen kann sie nicht gekauft haben, weil ich unser Geld seit dem Abend auch die ganze Zeit über bei mir trage. So wie ich es eigentlich immer mache, wenn meine Mutter wieder in einer ihrer Phasen ist, in denen sie vermehrt zur Flasche greift.
"Ich bin nicht betrunken", murrt sie etwas undeutlich und mustert mich mit einem leicht trotzigen Blick, bevor sie ihren Morgenmantel etwas enger um ihren Oberkörper zusammenzieht. "Ich wollte dich etwas fragen."
Aha, wir kommen der Sache also langsam näher...
"Und was?", frage ich, wobei ich nicht mal versuche, den genervten Unterton in meiner Stimme zu verbergen.
"Ich...", sie senkt ihren Blick und leckt sich einmal über ihre trockenen Lippen, bevor sie wieder ihren Kopf hebt, "ich wollte für uns einkaufen."
Spöttisch lache ich auf. "Einkaufen? Du?"
"Ja!" Gereizt verzieht sie das Gesicht. "Was ist daran so lustig?!"
"Vielleicht die Tatsache, dass du das letzte Mal kurz nach Dannys Geburt für uns einkaufen warst. Du kaufst ja sonst eher Dinge, die nur für dich bestimmt sind."
An ihrem immer wütender werdenden Gesichtsausdruck merke ich, dass sie meine Anspielung verstanden hat. Langsam steht sie von ihrem Stuhl auf.
"Das ist doch wohl meine Sache", knurrt sie gefährlich leise, "es ist schließlich auch mein Geld."
"Okay", sage ich und nicke, während ich langsam auf sie zutrete, "aber dann lass auch in Zukunft deine Finger von Dannys und meinem Kindergeld. Und von dem Geld, das Xenia mir zahlt."
"Was?"
"Ach, komm! Tu doch nicht so!", ich schnaube verächtlich, "glaubst du ernsthaft, ich habe nicht gemerkt, dass du dir Geld von meinem Vorschuss genommen hast?! Warum glaubst du wohl liegt hier nichts mehr an Bargeld herum?"
Wie zum Beweis greife ich nach der Kaffeedose, in der sonst immer unser Bargeld liegt, öffne sie und halte sie ihr hin.
"Da! Siehst du? Leer. Genauso wie unser Konto. Du wirst dich mit deinem Alibi-Einkauf also noch bis zum Monatsanfang gedulden müssen, wenn wieder neues Geld kommt."
Ich schließe die Kaffeedose wieder und stelle sie zurück auf den Küchentisch, während meine Mutter mich wütend anfunkelt.
"Du bist so ein vorlautes, arrogantes Miststück!", faucht sie, woraufhin ich noch ein Stück näher an sie heran trete.
"Und du bist wahrscheinlich die egoistischste Mutter auf der ganzen verdammten Welt. Du bist so sehr mit dir selbst beschäftigt, dass du nicht mal mitbekommen hast, dass ich heute mit Danny im Krankenhaus war!"
Prompt entgleitet meiner Mutter der Gesichtsausdruck.
"K-Krankenhaus?"
"Ja! Bist du schwerhörig?"
"Was ist passiert? Wie geht es Danny?"
"Als ob dich das interessiert!"
Bevor ich mich abwenden kann, greift meine Mutter nach meinem Handgelenk und zieht mich unsanft zurück.
"Wie geht es Danny?", wiederholt sie ihre Frage, diesmal mit fester Stimme, während sie mein Handgelenk so stark umfasst, dass es anfängt zu schmerzen.
"Es geht ihm gut", entgegne ich und ziehe mein Handgelenk mit einer ruckartigen Bewegung aus ihrem Griff. "Er ist im Kindergarten vom Klettergerüst gefallen. Er hat zwar eine Prellung am Handgelenk und eine leichte Verletzung über der Augenbraue, aber der Arzt hat alles versorgt und ihm sogar noch eine Salbe und Ersatzverbandszeug verschrieben, was ich vorhin noch in der Apotheke besorgt habe."
Während ich meine Mutter immer noch wütend anfunkle, schaut sie ins Leere und blinzelt mehrfach.
"Aber...aber warum hat der Kindergarten mich nicht benachrichtigt?"
Ich lache verächtlich. "Ist das dein Ernst? Du hast dich seit Dannys erstem Tag dort nicht mehr blicken lassen. Wahrscheinlich weißt du ja nicht mal mehr, wo der Kindergarten überhaupt liegt. Warum sollten die Erzieherinnen, deren Namen du bestimmt auch nicht mehr kennst, ausgerechnet dich dann anrufen, wenn ihm etwas passiert ist?"
"Lola?"
Ich schaue an meiner Mutter vorbei und sehe, dass Danny im Türrahmen erschienen ist.
Er hat die Finger seiner unverbundenen Hand zu einer kleinen Faust geformt und reibt sich damit über die vor Müdigkeit schmalen Augen.
"Ach, Großer."
Mit einem leichten Seufzer schiebe ich mich an meiner Mutter vorbei und gehe zu Danny, bevor ich ihn hochhebe. Sofort legen sich seine kleinen Ärmchen um meinen Nacken und er kuschelt sich an meine Schulter, wodurch seine vom Schlaf zerzausten Haare an meiner Nase kitzeln.
"Warum bist du denn noch wach? Hast du Durst? Oder Schmerzen? Tut dir dein Handgelenk weh?"
Danny hebt seinen Kopf wieder und schüttelt ihn.
"Nein, ich...", er verstummt und gähnt, nur um kurz darauf mehrfach müde zu blinzeln, "ich bin wach geworden und du warst nicht da. Darum wollte ich dich suchen gehen."
Ich muss lächeln.
"Tut mir Leid, Großer", sage ich und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn, "ich wollte jetzt auch schlafen kommen."
"Okay."
Danny lächelt müde, aber zufrieden, und kuschelt sich wieder an mich, während ich mich wieder zu meiner Mutter drehe.
Etwas unentschlossen steht sie am Küchentisch, wobei ihre Augen abwechselnd Danny und mich mustern. Für einen Moment glaube ich sogar, so etwas wie Sorge in ihrem Gesicht sehen zu können, aber da irre ich mich bestimmt.
"Ich geh dann mal schlafen", sage ich tonlos, während ich spüre, wie Dannys Atem immer regelmäßiger wird.
Anstatt mir zu antworten nickt meine Mutter langsam, den Blick wieder auf Danny gerichtet.
Ich atme tief durch und nicke ebenfalls, bevor ich mich wegdrehe.
"Lola?"
Verwirrt halte ich inne.
Es ist selten, dass meine Mutter mich direkt mit meinem Namen anspricht, ohne dass eine Beleidigung oder eine abfällige Bemerkung folgt.
Zögernd drehe ich meinen Kopf wieder um.
"Ja?"
"Danke."
Die Aufrichtigkeit in ihrer Stimme lässt mich die Augenbrauen heben. Für einen Moment glaube ich sogar, dass ich mich verhört habe, aber ihr Blick ist zur Abwechslung klar und vollständig auf mich gerichtet, so als ob sie mich wirklich wahrnehmen würde.
Trotzdem nimmt mein Gesicht wieder misstrauische Züge an.
"Ich mache das nicht für dich", entgegne ich und drehe mich wieder von ihr weg, bevor ich mit Danny auf dem Arm aus der Küche und zu unserem Zimmer gehe.

- Zoe -

Ich hätte sie beinahe geküsst.
Seufzend lehne ich mich gegen den Rahmen meiner geöffneten Balkontür, während ich meinen Blick über die nächtlichen Lichter der Stadt gleiten lasse, die aus einigen erhellten Fenstern und Straßenlaternen bestehen.
Es ist so ruhig.
Fast schon friedlich.
Ganz im Gegensatz zu der Aufregung, die ich zurzeit verspüre.
Ich hätte sie beinahe geküsst.
Ich weiß nicht, wie lange diese Worte schon in meinem Kopf auf einer gefühlten Endlosschleife immer wieder erklingen. In jedem Fall viel zu lange.
Ich schlucke und versuche ein weiteres Mal Struktur in meine Gedanken zu bringen, doch sie entgleiten mir erneut wie Wasser durch die Finger. Nur dieser eine Satz bleibt stets übrig.
Ich hätte sie beinahe geküsst.
Dabei ist es nicht einmal der simple Inhalt des Satzes, der mich so sehr beschäftigt, sondern die für mich versteckten Gefühle und Absichten dahinter.
Dass ich Lola küssen wollte. Und dass ich es bereue, es nicht getan zu haben.
Mit einem frustrierten Stöhnen schließe ich meine Augen und massiere mir mit zwei Fingern die Schläfe.
Ich kann mir nicht länger etwas vormachen. Und ich will es auch nicht.
Auch wenn ich es nicht möchte, muss ich mir eingestehen, dass ich Gefühle für Lola habe.
Gefühle, die über das übliche Verhältnis zwischen einer Lehrerin und einer Schülerin hinausgehen.
Gefühle, die Lola aufgrund ihres heutigen Verhaltens offenbar zu erwidern scheint, was alles noch viel komplizierter macht.
Und wie ich Lola kenne, wird sie nichts unversucht lassen, um so eine ähnliche Situation wie heute wieder entstehen zu lassen. Das ist es, was mir am meisten Angst macht. Das und die damit einhergehende Wahrscheinlichkeit, dass ich ihr dann nicht mehr widerstehen kann.
Ich öffne die Augen wieder und merke, dass meine Hand wieder unbewusst an die Stelle meines Unterarms gewandert ist, die Lola im Krankenhaus berührt hatte.
Niemand hat mich bisher so fühlen lassen, nicht mal Robert. Dieses Mädchen hat keine Ahnung, was sie mit mir macht...
Seufzend verschränke ich meine Arme vor der Brust und schiebe diese Gedanken beiseite.
Es geht einfach nicht.
Gefühle hin oder her, sie ist meine Schülerin und ich muss professionell bleiben.
Aber was genau heißt das? Wie soll ich in Zukunft mit ihr umgehen? Wie sollen wir miteinander umgehen?
Nachdenklich beiße ich mir auf die Unterlippe.
Ich will sie nicht vor den Kopf stoßen.
Aber ich möchte ihr auch keine Hoffnungen machen...oder sollte es zumindest nicht tun...nein, Zoe! Professionalität, erinnerst du dich?!
Wütend über mich selbst trete ich gegen den Rahmen meiner Balkontür, nur um kurz darauf schmerzhaft das Gesicht zu verziehen.
Toller Plan, Zoe. Wenn du so weiter machst, kannst du gleich nochmal ins Krankenhaus fahren, aber diesmal als Patient...
Während ich auf einem Bein balanciere und mir meinen schmerzenden Fuß reibe, überlege ich weiter.
Am besten behandle ich Lola so wie immer.
Wenn ich ihr aus dem Weg gehe oder aktiv das Gespräch suche, wird sie das wahrscheinlich nur noch zusätzlich anspornen. Genauso wie wenn ich alles abstreite. Dann würde sie erst recht nichts unversucht lassen, so stur wie sie sein kann.
Ja, ich werde einfach versuchen, so normal wie möglich mit ihr umzugehen und darauf achten, dass ich es vermeide mit ihr allein zu sein. Wenn ich für die Nachhilfestunde noch ein paar zusätzliche Übungsaufgaben zusammenstelle, könnte vielleicht sogar diese Zeit relativ unproblematisch vorbeigehen.
Ja, so ist es wahrscheinlich am besten...
Ich seufze und schließe meine Augen erneut, nur um zu sehen, wie Visionen von Lola hinter meinen geschlossenen Augenlidern tanzen.
Ich schlucke schwer und öffne sie wieder.
Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer sein kann, etwas nicht zu tun...

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt