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- Lola -

Ich seufze.
Mit geschlossenen Augen und vor der Brust verschränkten Armen sitze ich bestimmt schon seit einer halben Ewigkeit auf einem dieser ungemütlichen Plastikstühle vor dem Oberstufenbüro.
Allerdings bin ich zur Abwechslung mal nicht alleine.
Abgesehen von mir sitzen bestimmt noch ein Dutzend weitere Schüler aus meiner Stufe in dieser provisorisch aufgestellten Reihe aus Rücken-Folterinstrumenten und warten darauf, dass sie zu ihrer Orientierungs-Besprechung zum Beginn des Abschlussjahres von einem unserer Stufenleiter hereingerufen werden.
Und eine dementsprechende Lautstärke herrscht auch gerade auf dem Flur.
Trotzdem versuche ich es mir so gemütlich wie möglich zu machen, indem ich mich weit in meinem Stuhl zurückgelehnt habe und die strahlende Sonne, die mein Gesicht durch das Fenster schräg über mir angenehm wärmt, genieße.
Alles in allem ist es also gar nicht so schlecht.
BAM!
So viel dazu...
Mit einem erneuten Seufzer öffne ich die Augen und sehe, wie Ariana mit wutverzerrtem Gesicht aus dem Oberstufenbüro stampft. Wobei der Begriff "stampfen" eindeutig seinen bedrohlichen Charakter verliert, wenn man bedenkt, dass sie leichte Ballerinas mit Spitzenverzierung trägt.
"Das ist so unfair!", faucht Ariana und bleibt neben ihren beiden Freundinnen Louise und Sabrina, die ein paar Stühle von mir entfernt sitzen, stehen. "Dieser Vollidiot von Heinrichs hat mir gerade gesagt, dass ich Physik nicht abwählen kann! Dabei ruiniert dieses Fach total meinen Schnitt!" Sie seufzt theatralisch und verschränkt trotzig die Arme vor der Brust.
"Oh nein, du Arme!" Prompt springt Louise von ihrem Stuhl auf und macht Ariana Platz, während Sabrina ihr mitfühlend über den Arm streicht. "Du hast absolut Recht! Das ist so unfair von ihm!"
Ich unterdrücke den Drang die Augen zu verdrehen und drehe stattdessen meinen Kopf zur Seite.
Abgesehen davon, dass sogar ich mitbekommen habe, dass man im Abschlussjahr keine Fächer mehr abwählen kann, gehört Ariana zu den wenigen Leuten aus meiner Stufe, die ich absolut nicht leiden kann. Und wenn man bedenkt, dass ich mit kaum jemandem aus meiner Stufe etwas zu tun habe und mich so gut wie möglich aus den gemeinsamen Stufenparties und -veranstaltungen heraushalte, ist das schon eine beachtliche Leistung ihrerseits.
Mit ihren honigfarbenen Locken und den großen grünen Augen sieht sie zwar zugegebenermaßen sehr gut aus, aber ihre arrogante Art, ihre übertriebenen dramatischen Ausbrüche und die Einstellung, dass alle nach ihrer Nase tanzen müssen, machen sie direkt wieder hässlich.
"Findest du das etwa witzig?"
Überrascht hebe ich die Augenbrauen und schaue wieder zurück zu Ariana, die ebenfalls in meine Richtung schaut. Allerdings ist ihr Blick auf Rebecca fixiert, die auf dem Stuhl neben mir sitzt.
Wenn Rebecca nicht früher in meiner Klasse gewesen wäre, würde ich wahrscheinlich gar nicht wissen, wie sie heißt. Sie gehört zu denjenigen, die es verstehen, sich unsichtbar zu machen und ich habe sie auch selten mehr als ein paar Sätze sprechen hören.
Umso mehr verwundert es mich, dass Ariana gerade sie jetzt so anfährt.
Rebecca scheint ähnlich irritiert zu sein, denn ihre blauen Augen sind weit aufgerissen und ihre Wangen sind fast so rot wie ihre Haare.
"Bist du taub?!" Arianas Augen werden schmal und funkeln gefährlich.
"N-Nein..."
"Dann sag schon! Findest du das witzig? Oder warum hast du mich so schadenfroh angesehen?"
"Ich...ich habe doch gar nicht..."
"Natürlich hast du!"
"Jetzt lass sie doch in Ruhe, Ariana." Genervt beuge ich mich an Rebecca vorbei, wodurch Arianas Blick nun auf mich fällt.
"Halt dich da raus, Lola!"
"Das ist ein bisschen schwer, wenn du hier quer über den halben Flur jammerst."
"Jammern?!"
"Bist du jetzt etwa taub?"
Ariana schnaubt, streicht sich aber kurz darauf mit einem überlegenen Lächeln eine lockige Strähne hinters Ohr.
"War ja klar, dass du nicht nachvollziehen kannst, dass ich mich darüber aufrege. Du wirst ja wahrscheinlich nicht mal zum Abschluss zugelassen. So oft, wie du in den letzten Jahren geschwänzt hast."
"Ich wusste gar nicht, dass du so sehr auf mich geachtet hast", entgegne ich und zwinkere ihr mit einem provozierenden Lächeln zu, woraufhin sie erneut schnaubt.
"Oh bitte, wem ist das denn nicht aufgefallen? Und gerade deshalb würde es auch niemanden überraschen, wenn du am Ende ohne Abschluss da stehst. Aber ich ruiniere mir meinen Schnitt durch dieses Fach!"
"Komisch nur, dass ich und wahrscheinlich auch jeder andere aus der Stufe wusste, dass man in diesem Jahr keine Fächer mehr abwählen kann. Also auch deine lieben Freundinnen, die jetzt bestimmt zu viel Angst haben dir das zu sagen."
Ich schaue mit einer gehobenen Augenbraue zu Louise und Sabrina, die beide erröten und auf ihre Hände schauen. Dann sehe ich wieder zu Ariana.
"Vielleicht hättest du auf der letzten Pflichtversammlung der Stufe zur Abwechslung auch mal zuhören und nicht die ganze Zeit über dein Aussehen in deinem Taschenspiegel überprüfen sollen. Aber keine Sorge, wenn mir in nächster Zeit langweilig werden sollte, werde ich dich ausführlich bemitleiden."
"Lola Sommer."
Ich schaue auf und sehe, wie mein Stufenleiter und Sportlehrer Herr Heinrichs im Türrahmen zum Oberstufenbüro steht und mir mit einer Handbewegung zu verstehen gibt, zu ihm zu kommen.
Ohne Ariana weiter zu beachten stehe ich auf und gehe zu ihm, bemerke aber aus den Augenwinkeln, wie sowohl Ariana als auch Rebecca mich mit offenem Mund anstarren.
Obwohl Herr Heinrichs mich freundlich anlächelt und er auch zu den wenigen Lehrern gehört, die mir sympathisch sind, spüre ich, wie sich mein Magen zusammenzieht.
Kein Wunder, denn in einem Punkt muss ich Ariana leider Recht geben: ob ich zum Abschluss zugelassen werde, ist mehr als fraglich.

- Zoe -

Bis heute gibt es einige Dinge, die ich an meinem Beruf nicht nachvollziehen kann.
Ein Beispiel dafür wäre die Pausenaufsicht in den Schulfluren im Hochsommer.
Sicher, in Bereichen wie dem Chemietrakt oder dem Musikkorridor mit den teuren Instrumenten ist so eine Aufsicht aus Sicherheitsgründen durchaus berechtigt. Ob das allerdings auch für die stickigen und überhitzten Flure mit den normalen Klassenräumen unbedingt notwendig ist, wage ich zu bezweifeln, da sich eh jeder normal denkende Mensch bei so einem Wetter draußen aufhält.
Aber wahrscheinlich stört es mich auch gerade deshalb so sehr, weil ich heute diese ehrenvolle Aufgabe habe.
Mit einem Seufzen öffne ich einen weiteren Knopf meiner Bluse und fächere mir mit der anderen Hand etwas Luft zu, während ich mich gegen die Fensterreihe im dritten Stock lehne und durch die leicht verstaubte Glasscheibe nach draußen schaue.
Der Schulhof ist überfüllt.
Während die Schüler aus der Unter- und Mittelstufe trotz der Hitze wie wild über den Schulhof tollen, sitzen ein Großteil der Oberstufenschüler in kleinen Gruppen auf der Wiese neben der Sporthalle zusammen.
Was gäbe ich dafür, wenn ich dort jetzt liegen und mich sonnen könnte?
Sehnsüchtig hole ich tief Luft und lasse meinen Blick weitergleiten, bis er an der Schulmauer hängen bleibt.
Ein leichtes Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus.
Zusammen mit Rohan und zwei anderen Jungs, ich vermute Habib und Marvin, hat Lola es sich auf einem Teil der steinernen Mauer gemütlich gemacht. Wobei das durchaus wörtlich zu nehmen ist, denn Lola hat ihre Lederjacke als Kopfkissen umfunktioniert und liegt mit geschlossenen Augen und hinterm Kopf verschränkten Armen auf der Mauer.
Sieht auf jeden Fall sehr entspannt aus...
"So verträumt?"
Monas Stimme hinter mir lässt mich zusammenzucken, was sie wiederum zum Lachen bringt.
"Mann, Mona! Musst du mich so erschrecken?!"
"Was kann ich dafür, wenn du mit deinen Gedanken woanders bist?", entgegnet sie und hebt vielsagend eine Augenbraue, bevor sie zu mir ans Fenster tritt. "Und? Hältst du nach deiner Lebensretterin Ausschau?"
Genervt verdrehe ich die Augen und verschränke die Arme vor der Brust. "Ich bereue es langsam wirklich, dir davon erzählt zu haben."
Mona zuckt mit den Schultern. "Selber Schuld. Und wenn du am Freitag auf mich gehört und mit mir im Taxi gefahren wärst, wäre es auch gar nicht erst dazu gekommen."
Ich stöhne genervt. "Sonst noch etwas?"
"Ja", sie deutet mit einem Finger auf meine Bluse, "wenn du möchtest, dass sich deine nächste Klasse gleich auf den Unterricht und nicht auf etwas anderes konzentriert, würde ich an deiner Stelle den Knopf da wieder zu machen."
"Du bist echt unmöglich!"
Hastig und mit geröteten Wangen schließe ich den Kopf wieder, während Mona erneut lacht.
"Wenigstens bin ich ehrlich", erwidert sie und schaut wieder aus dem Fenster, "heute waren übrigens die Besprechungen."
Ich runzle die Stirn. "Welche Besprechungen?"
"Du weißt schon. Die Besprechungen, von denen David, also Herr Heinrichs, am Freitag gesprochen hatte, als wir ihn vorm Schulgebäude getroffen hatten. Die Orientierungs-Besprechungen der Abschlussstufe. Erinnerst du dich?"
"Ach so, ja klar."
Gleichzeitig drängt sich mit dieser Erinnerung auch der kleine Teil wieder in mein Gedächtnis zurück, in dem ich Lola in ihren überraschend kurzen Sportsachen gesehen habe.
Ich räuspere mich und straffe meine Schultern. "Und wie ist es gelaufen?"
"David meint ganz gut. Im Großen und Ganzen zumindest, es gibt ja immer ein paar Schüler, die sich eine Sonderbehandlung wünschen. Allerdings..."
Sie zögert, woraufhin ich sie mit gehobenen Augenbrauen anschaue.
"Allerdings was?"
"Na ja", Mona seufzt und schaut zu mir, "er macht sich Sorgen um Lola."
"Tut er das?" Misstrauisch kneife ich die Augen etwas zusammen. "Ich dachte, Lola wäre im Lehrerkollegium nicht sonderlich beliebt?"
"Ist sie auch nicht. Aber es gibt trotzdem ein paar, die sie sympathisch finden. Und zu denen gehört David."
"Na gut. Und warum macht er sich dann Sorgen?"
"Aus demselben Grund wie ich. Die Zulassung zum Abschluss." Mona seufzt. "David hat alles durchgerechnet und es wird bei ihr wirklich knapp, wenn nicht sogar fast unmöglich. Allerdings könnte sie noch die entscheidenden Punkte zusammenbekommen, wenn sie ihre bisherigen Noten hält und sich in einem ihrer beiden schlechtesten Fächer erheblich verbessert."
"Okay", ich nicke langsam, "und welche Fächer wären das?"
"Zum einen Mathe, was aufgrund der Tatsache, dass sie in diesem Fach von Bruno, also Herrn Lüdenscheid, unterrichtet wird, wenig überraschend ist."
"Verstehe. Da ist eine Verbesserung also eher ausgeschlossen."
"Das ist aber noch sehr freundlich ausgedrückt."
"Wenn du das sagst", ich zucke mit den Schultern, "und das andere Fach?"
Monas Mundwinkel heben sich zu einem wissenden Lächeln. "Französisch."
Meine Augen weiten sich, während Mona einen Schritt auf mich zutritt.
"Und da du Lolas Lehrerin in diesem Fach bist und dich durch eure kleine Begegnung am Freitag nun noch besser mit ihr verstehst, möchte ich dich um etwas bitten."
"Und..." Ich spüre, wie mein Hals sich zusammenzieht und muss schlucken. "Und um was?"
"Könntest du Lola Nachhilfe geben?"

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt