- Lola -
"Und ich soll wirklich nicht meinen Bruder oder meine beiden Cousins noch holen?"
"Oh Mann, Bibi", stöhne ich und drehe den Wohnungsschlüssel zwischen meinen Fingern, während Rohan neben mir die Augen verdreht, "wir reden hier immer noch von meiner Mutter und nicht von irgendwelchen Schlägertypen."
"Hey, ich meine ja nur", entgegnet Habib und hebt abwehrend die Hände, "immerhin hat sie aus Wut mit einer Glasflasche nach dir geworfen. Was ist, wenn es heute das Küchenmesser ist?"
"Sehr witzig, Kumpel", brummt Rohan und stößt Habib in die Seite, "das nächste Mal nehmen wir Marvin mit und du passt solange auf Danny auf."
"Ich könnte auf ein nächstes Mal ehrlich gesagt verzichten", entgegne ich und schaue für einen Moment auf die Wohnungstür, vor der wir im Treppenhaus stehen, bevor ich mich wieder zu den Jungs drehe. "Also, wir machen es wie besprochen. Ich gehe erst mal rein und schaue mir die Lage an. Die Wohnungstür lasse ich angelehnt und wenn ihr irgendetwas Komisches mitbekommen solltet, kommt ihr rein. Alles klar?"
"Alles klar", erwidert Rohan und nickt entschlossen, während Habib seine Hände in den Hosentaschen vergräbt.
"Ja, und wenn das alles vorbei ist, verrätst du uns, wo du und der Kleine die Nacht verbracht habt", sagt Habib und grinst mich vielsagend an. "Und vor allem bei wem."
"Mann, Alter", stöhnt Rohan genervt, "kannst du nicht wenigstens einmal ernst bleiben?"
"Komm! Tu doch nicht so, als ob es dich nicht interessieren würde, Romeo", entgegnet Habib und stößt Rohan gegen die Schulter, während ich die Augen verdrehe.
"Ich habe doch schon gesagt, dass ihr sie nicht kennt."
Zumindest nicht persönlich, sondern nur vom Sehen...
"Das bedeutet, dass du bei jemandem...bei einer Frau, um genau zu sein", er zwinkert mir verschwörerisch zu, "...übernachtet hast, von der du uns bewusst nichts erzählen möchtest? Höchst interessant..."
"Ach, halt doch die Klappe!", fauche ich und schaue zur Seite. Trotzdem sehe ich aus dem Augenwinkeln, wie Habib Rohan erneut gegen die Schulter stößt, dessen Gesichtsausdruck ich nicht deuten kann.
"Was sagst du dazu, Romeo? Unsere Prinzessin verheimlicht uns etwas...oder vielmehr jemanden. Sieht so aus, als hättest du ernsthafte Konkurrenz bekommen."
Ich schließe die Augen und atme tief durch, während ich erneut bereue Marvin nicht mitgenommen zu haben.
Wobei Habib dann wahrscheinlich Danny so lange mit Fragen gelöchert hätte, bis dieser ihm Zoes Namen verraten hätte. Und bei Dannys offener und zutraulicher Art hätte das höchstens fünf Minuten gedauert.
Insofern war es vielleicht doch keine so schlechte Entscheidung Habib mitzunehmen, aber es war definitiv die anstrengendere von beiden...
"Weißt du", ich schaue zu Habib und massiere mir seufzend die Schläfe, "manchmal frage ich mich echt, warum wir beide befreundet sind."
"Willkommen im Club", brummt Rohan, woraufhin Habib die Augen verdreht.
"Weil euch sonst mein unfassbarer Charme in eurem Leben fehlen würde."
"Das wäre eher ein Grund dich loszuwerden", entgegne ich und stecke den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür, bevor ich ihn zum Öffnen der Tür zweimal herumdrehe.
Ich nicke den beiden nochmal kurz zu und drücke dann langsam die Tür auf, bevor ich in den Flur trete und die Tür hinter mir anlehne. Dann schaue ich mich um.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber zu meiner Überraschung sieht alles aus wie immer.
Der schmale Flur, der alte Teppich mit den plattgetretenen Fransen, die Garderobe aus zerkratztem dunklen Holz.
Alles auf den ersten Blick nicht besonders auffällig.
Etwas verunsichert kaue ich auf meiner Unterlippe und horche, ob ich irgendein Geräusch wahrnehmen kann, höre aber nur das pochende Klopfen meines Herzens in meinen Ohren.
Langsam gehe ich den Flur entlang, wobei ich im Vorbeigehen in das Zimmer meiner Mutter spähe, welches jedoch leer ist. Um genau zu sein sieht es genauso aus wie gestern...
Ich schlucke und gehe weiter, wobei ich immer wieder kurze Blicke in die verschiedenen, wenn auch leeren, Räume werfe, bis ich schließlich auf dem Boden vor der Küche vereinzelte Scherben der Kornflasche entdecke. Genau an der Stelle, an der ich gestern gestanden hatte und beinahe von der Flasche getroffen worden wäre. Nicht mal die Scherben hat meine Mutter über Nacht weggeräumt...
Ich spüre, wie etwas Wut in mir aufsteigt, gehe aber trotzdem weiter, bis ich kurz vor der Küche stehen bleibe und vorsichtig in den Raum spähe.
Meine Mutter befindet sich an der exakt selben Stelle, an der sie auch gestern gestanden hatte.
Allerdings sitzt sie zusammengesunken neben dem Küchentisch auf dem Boden, hat ihre Beine angewinkelt und ihre Arme darum geschlungen, während sie ihren Kopf auf ihre Knie gelegt hat.
Hat sie etwa die ganze Nacht dort gesessen?
Das abrupte Knirschen einer Scherbe unter meinen Schuhen lässt den Kopf meiner Mutter hochschnellen. Die Schatten unter ihren geröteten Augen sind noch dunkler geworden und sie starrt mich an, als wäre ich eine Art Erscheinung.
"L-Lola?", fragt sie ungläubig und wischt sich mit ihrem Ärmel über das Gesicht, über das noch vereinzelte Tränen laufen.
Ein unbehagenes Gefühl macht sich in mir breit.
Ich habe meine Mutter noch nie weinen sehen.
Wütend? Ja.
Desinteressiert? Sicher.
Aber weinend? Nein. Nicht mal nach dem Tod meines Vaters...
Ich schlucke und schaue zur Seite, nur um am Türrahmen den verklebten Fleck zu sehen, der entstanden ist, als die Flasche dagegen geknallt war.
Mein Hals zieht sich zusammen und ich schaue wieder zurück zu meiner Mutter, die kurz aufschluchzt, mich aber immer noch mit einer Mischung aus Erstaunen und Fassungslosigkeit anstarrt.
"W-was machst du hier?"
Meine Lippen verformen sich zu einem schmalen Strich.
"Wenn du willst, kann ich auch wieder gehen", entgegne ich patzig und will mich schon wieder abwenden, als ich höre, wie meine Mutter sich hastig aufrichtet.
"Nein, nein! Bitte bleib! Ich..." Sie schluckt kurz, während sie sich mit einer Hand am Küchentisch abstützt, um ihre wackeligen Beine etwas zu entlasten. "Ich...ich freue mich, dass du da bist. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du nochmal zurückkommst, nachdem...nachdem...nach gestern."
Ihre Stimme war zum Ende des Satzes immer leiser geworden und sie hat ihren Kopf mehr und mehr zwischen ihre Schultern gezogen, um meinem Blick besser ausweichen zu können.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast glauben, dass ihr die ganze Sache Leid tut...
"Natürlich bin ich zurückgekommen", erwidere ich und versuche, mich nicht von der mitgenommenen Gestalt meiner Mutter irritieren zu lassen, "wo soll ich denn auch sonst hin?"
Bei dieser doch sehr rhetorischen Frage zuckt meine Mutter leicht zusammen, nickt aber, auch wenn sie mich immer noch nicht ansieht.
Gleichzeitig spüre ich ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen, was mich aufseufzen lässt.
"Und außerdem..." Ich halte inne und überlege, ob ich meine Gedanken wirklich aussprechen soll. "Außerdem...wollte ich sehen, wie es dir geht."
Das bringt meine Mutter dazu, langsam wieder aufzusehen und mich mit großen Augen anzusehen. Fast so, als könnte sie nicht glauben, was ich da gerade gesagt habe.
Im Grunde kann ich es ja selber kaum glauben...
Etwas unbeholfen verschränke ich die Arme vor der Brust und schaue zur Seite, bevor ich zu einem der Küchenschränke gehe und einen kleinen Handfeger und eine Kehrschaufel daraus hervorhole.
"Wir...wir sollten das hier wegräumen", murmle ich und hocke mich hin, um die Scherben langsam auf die Kehrschaufel zu fegen, als ich spüre, wie meine Mutter sich neben mich hockt.
"Pass auf", sage ich und deute mit dem Kopf auf ihre nackten Füße, "du verletzt dich noch."
Aber meine Mutter achtet nicht auf die umliegenden Scherben, sondern schaut mich einfach nur aus ihren verweinten Augen an, so als könnte sie immer noch nicht glauben, dass ich wirklich neben ihr bin.
"Ich...", sie senkt für einen Moment ihren Blick auf die Scherben und schaut dann wieder zu mir, "ich wollte das nicht."
Mein Gesicht verhärtet sich und ich fege weiter die verklebten Scherben zusammen.
"Es ist ja nichts passiert", entgegne ich und versuche, meiner Stimme einen festen Klang zu verleihen.
"Ich meine nicht nur die Sache von gestern. Ich...ich meine alles."
Auch wenn ich meine Mutter nicht ansehe, spüre ich ihren eindringlichen Blick und den Kloß, der sich langsam in meinem Hals bildet.
"Du hattest Recht", fährt sie fort. "Mit allem, was du mir gesagt hast. Erst recht damit, dass ich mich ändern muss. Dass ich mir Hilfe suchen muss. Und das werde ich."
Ich höre auf, die Scherben zusammenzufegen, schaue sie aber weiter nicht an.
"Warum sollte ich dir glauben?", frage ich tonlos.
"Lola, bitte! Ich...ich will mich wirklich ändern! Ich..."
"Seit Papas Tod hast du mich mit allem allein gelassen." Obwohl meine Stimme leise ist, hört man mehr als deutlich die Bitterkeit, die in ihr mitschwingt. "Ich war im Heim und es hat dich nicht interessiert. Ich habe jahrelang die Schule geschwänzt und bin total abgerutscht, um mich um Danny zu kümmern, und es hat dich nicht interessiert. Ich als deine Tochter habe dich noch nie interessiert. Warum soll ich dir glauben, dass dich das alles ausgerechnet jetzt interessiert? Dass du dich ausgerechnet jetzt ändern möchtest? Etwa nur, weil ich gedroht habe, Danny nach meinem Abschluss mitzunehmen?"
"Nein..."
"Warum dann?!"
Ich erschrecke mich selber über das Schrillen in meiner Stimme, genauso wie meine Mutter, die ein Stück zurückweicht, dann aber wieder zu mir rutscht.
"Weil ich eingesehen habe, dass du Recht hast. Dass ich dich und Danny in den letzten Jahren total vernachlässigt habe und dass das alles so nicht weitergehen kann."
"Oh, herzlichen Glückwunsch zu dieser komplett verspäteten Erkenntnis!", entgegne ich spöttisch und stehe auf, um mit vor der Brust verschränkten Armen zum Küchenfenster zu gehen. Der Kloß in meinem Hals wird immer schwerer, aber wenn ich versuchen würde ihn herunterzuschlucken, würden mir die Tränen kommen und das will ich um jeden Preis verhindern.
Hinter mir höre ich, wie meine Mutter ebenfalls aufsteht.
"Was muss ich machen, damit du mir glaubst?" Ich drehe mich wieder zu meiner Mutter und mustere sie abfällig. "Bitte, ich...ich mach alles. Alles, damit du mir glaubst."
Der flehende Ton in ihrer Stimme unterstreicht den bittenden Ausdruck auf ihrem Gesicht, aber zu meiner Verwunderung wirkt es aufrichtig.
Ich zögere noch einen Moment und atme dann tief durch.
"Dann beweise es mir. Beweise mir, dass du dich wirklich ändern willst. Nicht mit Worten, sondern mit deinem Verhalten. Zeig mir, dass du anders sein kannst."
"Das werde ich." Meine Mutter nickt eifrig. "Versprochen! Sag mir einfach, was ich tun soll. Ich mache alles! Wirklich!"
"Okay", ich nicke langsam und schaue dann zu dem Scherbenhaufen, "du kannst damit anfangen, dass du die Scherben dort zusammenkehrst. Aber zieh dir vorher Hausschuhe oder so was an, bevor du noch aus Versehen in die Scherben trittst. Und dann könntest du auch noch den Fleck am Türrahmen wegwischen. Ich will nicht, dass Danny das alles sieht, wenn ich gleich mit ihm wiederkomme."
"Ja, in Ordnung." Meine Mutter nickt erneut, schaut mich aber kurz darauf wieder etwas vorsichtig an. "Ich...ich werde mich wirklich ändern, Lola. Und ich werde dich nicht enttäuschen. Ich verspreche es."
Der Kloß in meinem Hals wird erneut schwerer und ich vergrabe meine Hände in den Taschen meiner Lederjacke.
"Wir werden sehen", entgegne ich und straffe meine Schultern. "Ich hole dann jetzt Danny."
"Okay, mach das. Ich kümmere mich in der Zeit um die Sachen hier", sagt sie und deutet auf den Scherbenhaufen und den Fleck, während ich wieder auf den Flur trete.
"Bis gleich!", ruft meine Mutter mir noch nach, was mich kurz inne halten lässt, bevor ich weitergehe.
"Ja, bis gleich", erwidere ich und öffne die angelehnte Wohnungstür, um dahinter in die überraschten Gesichter von Rohan und Habib zu blicken.
"Bis gleich?" Ungläubig schaut Rohan mich an, während ich die Wohnungstür hinter mir zuziehe. "Das heißt, du gehst wirklich wieder mit Danny zu deiner Mutter zurück."
"Wo sollen wir denn sonst hin?", entgegne ich und gehe langsam die ersten Stufen der Treppe hinunter.
"Zum Beispiel zu deiner neuen Freundin", erwidert Habib, während er und Rohan mir folgen. "So könnt ihr direkt mal ausprobieren, wie das mit dem Zusammenleben klappt. So was ist ja für jede Beziehung sehr wichtig zu wissen."
Er lacht, aber ich werfe ihm einen warnenden Blick zu.
"Ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung für deine Scherze, Bibi", sage ich, woraufhin Habib entschuldigend beide Hände hebt.
"Tut mir Leid, Prinzessin. Ich wollte dich nur ein bisschen aufheitern."
"Lass es lieber bleiben, Kumpel", erwidert Rohan und schaut dann nachdenklich wieder zu mir. "Was hat deine Mutter gesagt?"
Ich zucke mit den Schultern und springe die letzten Stufen der Treppe hinunter.
"Sie hat behauptet, dass sie sich ändern will. Sie meinte, dass sie einsieht, dass sie sich in den letzten Jahren nicht gut um uns gekümmert hat und will das jetzt alles anders machen."
"Aber du glaubst ihr nicht?"
Rohan mustert mich fragend, während ich die Haustür aufdrücke und erneut mit den Schultern zucke.
"Ich weiß es nicht."
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Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)
RomanceSie wissen nicht, was sie voneinander halten sollen. Lola Sommer, die durch ihre rebellische und vorlaute Art in der Schule nur Ärger macht und Zoe Jacobi, die ihre Stelle als neue Französischlehrerin an Lolas Schule antritt. Beide haben Gründe, den...