# 63

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- Lola -

So leise wie möglich drehe ich den Schlüssel im Schlüsselloch herum und drücke die Wohnungstür vorsichtig auf.
Der Weg vom Hafen zurück hat länger gedauert als ich angenommen hatte, sodass es schon dunkel war und die Straßen nur noch von dem Schein der Laternen beleuchtet wurden, als ich vor unserem Wohnhaus angekommen bin.
Mit Sicherheit schlafen Danny und meine Mutter schon...
Auf Zehenspitzen schleiche ich in den dunklen Flur der Wohnung und schließe die Tür mit einem leisen Klicken hinter mir.
Hoffentlich hat alles geklappt...wobei...das hat es bestimmt...sonst hätte ich doch schon längst einen Anruf erhalten...
Seufzend streife ich mir die Schuhe von den Füßen und ziehe meine Lederjacke aus, die ich über einen der Haken der Garderobe hänge.
Meine Augen brennen immer noch von den Tränen der vergangenen Stunden und das beengende Gefühl in meiner Brust und in meinem Hals ist auch nicht besser geworden.
Prompt wandern meine Gedanken wieder zu Zoe und ich spüre, wie mein Herz erneut sinkt.
Ich habe genau gesehen, wie sehr ich sie mit meinem distanzierten Verhalten verletzt habe...
Das stille Flehen in ihrem Blick...
Das tränenerfüllte Schimmern in ihren Augen...
Das schwankende Zittern in ihrer Stimme...
Ich schlucke schwer und lehne meinen Kopf neben meine Hand gegen die Garderobe, während erneut Tränen in meinen geschlossenen Augen aufsteigen.
Es tut mir Leid, Zoe...
Es tut mir so unendlich Leid...
"Da bist du ja, Lola."
Ein wenig erschrocken über die Stimme fahre ich herum und blinzle mehrfach durch meine Tränen hindurch, um zu sehen, dass meine Mutter in dem dunklen Flur erschienen ist. Trotz meiner Tränen und der umgebenden Dunkelheit kann ich erkennen, dass sie in ihren Bademantel gehüllt ist und mich mit vor der Brust verschränkten Armen und schiefgelegtem Kopf mustert.
"Hallo...ähm..."
Ein wenig unbeholfen wische ich mir über die Augen, um die Tränen verschwinden zu lassen und kneife kurz darauf die Augen fest zusammen, als meine Mutter die Stehlampe anknippst, die den Flur in ein warmes, aber für mich auch blendendes Licht taucht.
Ich brauche einen Moment, bis ich meine Augen wieder vorsichtig öffne und sie halbgeöffnet lasse, damit sie sich an das plötzliche Licht gewöhnen können, was jedoch nicht allzu lange dauert und ich kurz darauf erkenne, dass meine Mutter mich mit einer Mischung aus Neugier und Sorge betrachtet.
Na super...
"Ähm...", ich räuspere mich, um meine Stimme etwas fester klingen zu lassen, "tut...tut mir Leid, dass du heute Danny abholen musstest."
"Schon in Ordnung. Das sind schließlich keine Umstände", erwidert meine Mutter ruhig, während sie mich weiter aus ihren blauen Augen mustert, "allerdings hat Danny sich sehr gewundert, dass du heute nicht zum Abendessen gekommen bist."
Ich schlucke kurz und senke den Blick, um auf die Spitzen meiner Turnschuhe zu schauen.
Das auch noch...
"Ich...es..."
Ich versuche eine Ausrede oder wenigstens einen vollständigen Satz in meinen Gedanken zu formulieren und diesen auszusprechen, schaffe es aber nicht und seufze schließlich tief.
"Tut mir Leid", murmle ich erneut und hebe langsam wieder den Kopf, um zu meiner Mutter zu schauen, "war er...war er sehr enttäuscht? Oder hat er sich Sorgen gemacht?"
"Nein." Meine Mutter schüttelt den Kopf, was mich die Augenbrauen heben lässt.
"Nein?"
"Nein. Ich habe ihm gesagt, dass du mir eine Nachricht geschrieben hättest und später nach Hause kommen würdest. Und dass ich ihn ganz fest von dir drücken soll."
Ich atme etwas erleichtert auf, stutze aber einen Moment später. "Aber hast du...hast du dich denn gar nicht gefragt, wo ich bleibe? Ich meine, was wäre gewesen, wenn ich gar nicht nach Hause gekommen wäre?"
"Nun, ich gebe zu, dass das schon ein kleines Risiko gewesen ist", erwidert meine Mutter und löst ihre vor der Brust verschränkten Arme, um ihre Hände in den Taschen ihres Bademantels zu vergraben, "aber ich war mir relativ sicher, dass du einige Dinge mit...Frau Jacobi...zu klären hattest und deshalb später nach Hause kommen würdest. Schließlich hat Frau Jacobi dich, wie sie selbst sagte, den ganzen Nachmittag über gesucht. Und deshalb habe ich mir auch keine Sorgen um dich gemacht, zumindest keine allzu großen Sorgen."
Verdammt...
Ich kaue auf meiner Unterlippe, während ich versuche, den Ausdruck im Gesicht meiner Mutter zu lesen oder zumindest ansatzweise zu deuten, was mir jedoch nicht gelingt.
Ob sie es weiß?
Aber nein, wie könnte sie es wissen?
Zoe wird sich ihr schließlich nicht als meine Freundin, sondern als meine Lehrerin vorgestellt haben...
"Ach...tatsächlich?", frage ich so ahnungslos wie möglich und lasse meinen Blick ein wenig zur Seite gleiten, "was...was wollte...Frau Jacobi...denn?"
"Das hat sie nicht gesagt, nur dass es sehr dringend wäre. Sie hatte wohl mehrfach versucht, dich auf dem Handy zu erreichen, aber du bist nicht dran gegangen, weshalb sie bei uns vor der Tür gestanden hat. Sie war sehr enttäuscht, als sie gemerkt hat, dass du nicht zu Hause warst, aber dafür hat Danny sich umso mehr gefreut sie zu sehen, so stürmisch und fröhlich, wie er sie begrüßt hat."
Oh verdammt...
Ich traue mich nicht in die Richtung meiner Mutter zu sehen.
Danny wird Zoe sicherlich nicht mit ihrem Nachnamen angesprochen haben...und meine Mutter wird sich bestimmt noch daran erinnern, dass ich mich am Samstag mit einer gewissen Zoe getroffen habe...und welche Lehrerin hat schon von ihrer Schülerin die Handynummer?!
Oh verdammt, sie weiß es!
Sie weiß es!
"Lola."
Ich kneife die Augen zusammen und ziehe meinen Kopf ein wenig zwischen meine Schultern.
"Lola. Sieh mich bitte an."
Ich schlucke schwer, bevor ich langsam und mit flatternden Lidern meine Augen öffne.
Macht es wirklich einen so großen Unterschied, ob meine Mutter jetzt auch noch davon weiß? Ich meine...ich habe doch heute eh die Schule abgebrochen...so gesehen sind Zoe und ich ja gar nicht mehr Lehrerin und Schülerin...
Soll meine Mutter mich doch dafür verurteilen...sie hat sich doch eh nie um mich gekümmert oder sich für mich interessiert...wieso sollte ich mich da für ihre Meinung zu meiner Beziehung interessieren?
Mit einem tiefen Seufzer straffe ich meine Schultern und drehe meinen Kopf wieder in die Richtung meiner Mutter, die mich immer noch mit einem Ausdruck mustert, den ich nicht richtig deuten kann.
Für eine kleine Ewigkeit betrachtet meine Mutter mich einfach nur schweigend, bis sie sich schließlich räuspert und einen kleinen Schritt auf mich zutritt.
"Hat...hat deine Zoe dich am Hafen gefunden?"
"Meine...?"
Ich blinzle etwas überrascht, bringe jedoch ein leichtes Nicken zustande, was meine Mutter ebenfalls nicken und zufrieden lächeln lässt.
"Gut. Sehr gut. Und habt ihr euch ausgesprochen?"
"A-Ausgesprochen?"
"Ja", meine Mutter nickt erneut, "ich habe angenommen, dass es zwischen euch Streit oder zumindest eine Unstimmigkeit gegeben hat. Schließlich würde deine Zoe sonst nicht den Nachmittag damit verbringen nach dir zu suchen und erst recht nicht hier auftauchen und nach dir fragen."
"Ich...ähm...ja", murmle ich, während ich meine Mutter immer noch etwas ungläubig mustere, "das...das klingt einleuchtend...also, deine Vermutung meine ich...aber woher wusstest du überhaupt, dass ich am Hafen bin?"
Das Lächeln meiner Mutter macht einem leicht melancholischen Ausdruck Platz und sie holt tief Luft, während sie wieder die Arme vor der Brust verschränkt.
"Du...du warst dort oft als Kind...zusammen mit deinem Vater. Es war sein Lieblingsort und somit automatisch auch deiner, zumindest war es früher so...und...und ich bin einfach davon ausgegangen, dass sich  das bis heute nicht geändert hat."
Was...?
Meine Augen weiten sich vor Erstaunen, während meine Mutter sich auf die Unterlippe beißt und ihren Blick etwas abwendet.
"Daran...daran erinnerst du dich noch?", frage ich und kann die Überraschung darüber in meiner Stimme nicht verbergen.
Die Arme meiner Mutter verschränken sich etwas fester um ihren Körper, aber trotzdem dreht sie  ihren Kopf nach einem schweren Schlucken wieder in meine Richtung.
"Ja", sagt sie leise und nickt leicht, während sie mich mit einem schwermütigen Blick betrachtet. "Ich...ich erinnere mich an vieles von damals...vielleicht an zu viel...und vielleicht auch zu sehr...und...vielleicht ist es mir auch deshalb immer so schwer gefallen, mich um dich zu kümmern...denn du hast so viel von deinem Vater, Lola...so unglaublich viel...und immer wenn ich dich angesehen habe, ist mir klar geworden, dass ich ihn nie wieder sehen werde...und...das habe ich einfach nicht ertragen..."
Während meine Mutter ihren Blick wieder abwendet und mehrfach blinzelt, zieht sich mein Hals schmerzhaft zusammen.
Das...das kann doch nicht sein...
Ich muss mich verhört haben...
Meine Mutter...sie...sie...
"Ich...", ich räuspere mich ein wenig, um den Kloß in meinem Hals etwas zu lockern, "ich dachte...ich dachte, du hasst mich..."
Obwohl meine Stimme nicht mehr als ein Flüstern ist, scheint meine Mutter meine Worte verstanden zu haben, denn sie dreht sich wieder abrupt in meine Richtung und schaut mich aus großen Augen an.
"Ich...nein...", sagt sie und schüttelt heftig den Kopf, "nein, ich hasse dich nicht! Ich...ich gebe zu, dass ich dir wahrscheinlich diesen Eindruck vermittelt habe...und dass ich dir keine gute Mutter gewesen bin...und...und dass ich das auch nie wieder gut machen kann. Ich...ich war überfordert...mit mir und meinem Leben...und das für eine viel zu lange Zeit...aber ich hasse dich nicht, Lola...das habe ich nie getan."
Ich spüre, wie der Kloß in meinem Hals wieder schwerer wird und ich kaue auf meiner Unterlippe, in der Hoffnung mich von den aufsteigenden Tränen abzulenken, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.
Die Erpressung von Herrn Lüdenscheid...der Schulabbruch...das Geld für die Reparatur, das ich irgendwo auftreiben muss...Zoe, die ich so sehr mit meinem heutigen Verhalten verletzt habe...und jetzt auch noch das, obwohl das wahrscheinlich das einzig Schöne an diesem Tag ist...
Es...es ist einfach alles zuviel...
Ich...ich kann nicht mehr...
Ein schwerer Schluchzer entfährt mir und lässt Tränen über meine Wangen laufen. Hastig wische ich mir über die Augen und bedecke meinen Mund mit einer Hand, doch auch das kann nicht verhindern, dass mir weitere Schluchzer entfahren und noch mehr Tränen über die Wangen laufen, während mein Körper von einem leichten Zittern erfasst wird.
"Lola..."
Ich spüre, wie sich eine Hand vorsichtig auf meine Schultern legt und schaue schluchzend auf, um durch die Tränen meine Mutter zu sehen, die nun knapp einen Schritt vor mir steht.
"Lola...ich...es tut mir Leid. Es tut wirklich so unendlich Leid, dass ich..."
"Ach, es ist doch nicht nur wegen dir", unterbreche ich sie und ziehe die Nase hoch, während mir weitere Schluchzer entfahren und ich noch stärker zittere.
Ich kann nicht mehr...ich kann einfach nicht mehr...
Trotz der Tränen erkenne ich, dass die schuldbewussten Züge im Gesicht meiner Mutter verschwinden und stattdessen einen leicht fragenden Charakter annehmen, während sie beginnt, mir langsam über die Schulter zu streichen.
"Möchtest du...", sie hält inne und schluckt kurz, bevor sie ihre Schultern strafft und mich fest ansieht, "möchtest du vielleicht darüber reden?"
Schluchzend und schniefend betrachte ich meine Mutter durch den Tränenschleier vor meinen Augen und wische schließlich erneut mit einer Hand darüber.
Konnte ich...?
Sollte ich...?
Wollte ich...?
Erst nach einer Weile des Schweigens und Grübelns nicke ich langsam.
"Ja..."

Liebe Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 1) (girlxgirl; teacherxstudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt