Sturm - Storm
„Dunkeln muss der Himmel rings im Runde,
dass sein Sternenglanz zu leuchten wage;
stürmen muss das Meer tief bis zum Grunde,
dass an's Land es seine Perlen trage."
(M.Grün [Graf Auersperg])
~
Es war mitten in der Nacht, als Einar Andersen wach wurde.
Erst dachte er, es käme nur von dem Sturm. Der Regen prasselte noch immer laut gegen das Fenster und das Heulen des Windes schien auch zugenommen zu haben.
Einar blieb im Bett liegen und lauschte. Über das Knarren des Holzes hinweg hörte er das starke Rauschen des Meeres. Es musste ein ordentlicher Wellengang sein. Der Regen trommelte unablässig gegen die Fenster. Die Glut im Ofen knisterte noch leise vor sich hin.
Erst dachte er, er wäre davon aufgewacht. Aber da war noch irgendetwas anderes. Einar wusste nur nicht genau, was es war.
Er lauschte weiter in die Nacht, als er plötzlich ein Klopfen hörte. Zuerst dachte er, er würde es sich nur einbilden. Wer sollte denn auf einmal an seiner Haustür klopfen? Bei dieser rauen See waren wohl kaum Fischer unterwegs. Das wäre Selbstmord. Außerdem wusste kaum jemand, dass er auf dieser verlassenen Schäre lebte.
Er musste es sich einfach eingebildet haben.
Aber da war es schon wieder. Es war kein ruhiges, gleichmäßiges Klopfen. Es war ein verzweifeltes Klopfen und es hatte eine gewisse Dringlichkeit. Einar glaubte immer noch nicht, dass es echt war, aber er kam zu dem Schluss, dass er lieber nachsehen sollte.
Wenn es nur Einbildung war, konnte er sich ja immer noch wieder hinlegen und weiterschlafen. Wer weiß, wer da draußen war. Vielleicht brauchte irgendjemand seine Hilfe.
Einar quälte sich aus dem Bett und zog sich schnell eine Jacke über. Er ging mit ruhigen, langen Schritten auf die Haustür zu. Das Klopfen hielt immer noch an, allerdings wurde es schwächer, als hätte der Klopfende keine wirkliche Kraft mehr.
Seltsam.
Einar schob seine Schuhe zur Seite und öffnete langsam die Tür. Er erwartete eigentlich, dass niemand davor stehen würde oder einfach nur der Ast eines Baumes gegen die Tür schlagen würde. Aber vor seinen Augen stand eine junge Frau.
Sie sah ihn verzweifelt an und brach dann auf dem Boden zusammen. Einar konnte ihr gerade so noch ausweichen.
Der Regen wurde durch den Wind in das Hausinnere getragen. Einar stand neben der jungen Frau und wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte sie nicht draußen liegen lassen, so viel war klar.
Aber er zögerte auch, sie mit in das Haus zu nehmen. Wer war sie denn überhaupt? Was wollte sie hier und wie kam sie hierher?
Sie trug einen langen, weiten Rock und ein Fischerhemd, darüber einen dicken Pullover. Ihre Haare waren an den Seiten zu zwei Zöpfen geflochten und hinten zusammengebunden. Sie war völlig durchnässt.
Einar entschloss sich, sie in das Haus zu tragen. Hätte es nicht so sehr geregnet und gestürmt, hätte er die Tür wahrscheinlich einfach offen gelassen und sie auf der Türschwelle liegen lassen. Aber bei diesem Wetter war das unzumutbar. Der Boden würde viel zu viel Wasser abbekommen und am Ende noch morsch werden.
Zögerlich hob er das junge Mädchen von dem kalten Boden auf und trug sie nach drinnen. Mit dem Fuß trat er die Tür zu.
Was sollte er jetzt mit ihr machen? Er konnte sie in den Sessel setzen... oder er konnte ihr das Bett überlassen und selbst auf dem Boden schlafen. Vielleicht sollte er auch erst einmal das Feuer wieder anfachen, damit es ein bisschen wärmer wäre.
Er legte die Frau auf dem Bett ab und ging zum Ofen, um ein wenig Holz in die Glut zu legen. Das Mädchen musste komplett durchgefroren sein.
Sie war wahrscheinlich vor Erschöpfung ohnmächtig geworden. Bestimmt brauchte sie einfach nur ein wenig Ruhe, damit sie sich erholen konnte. Danach würde sie sicher wieder dorthin gehen können, wo sie herkam.
Einar überlegte einen Moment, ob er ihr trockene Kleidung anziehen sollte, fand es dann aber zu unangebracht. Sein Blick glitt zu der schlafenden Frau. Sie war nicht sehr alt, vielleicht Anfang 20. Sie sah für seine Begriffe ziemlich zerbrechlich aus, aber vielleicht täuschte das auch.
Einar wickelte sie in seine alte Wolldecke ein und deckte sie mit seiner ganz normalen Bettdecke zu. Das war das Mindeste, was er tun konnte.
Dann ging er nach oben auf den Dachboden. Dort mussten noch irgendwo ein paar Wolldecken herumliegen, die er zum Schlafen benutzen konnte.
Einar Andersen hoffte, dass er auf dem harten, kalten Boden schlafen konnte.
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Huset på skjæret - Das Haus auf der Schäre
General FictionEinar Andersen lebt allein auf einer Schäre vor der Küste Norwegens. Er hat seit vier Jahren mit keiner Menschenseele mehr geredet und kümmert sich eigentlich nur um sich und seine Insel. In einer stürmischen Nacht klopft allerdings ein junges Mädch...