Die neue Frau – Ny kvinna
Er atmete freier – erst versuchsweise, dann ganz tief und mehrmals hintereinander. Nun begann er sich zur rühren, still und unmerklich und nicht ohne Furcht, die Geister hier oben möchten misstrauisch werden. Vorsichtig glitt er dem Abstieg näher, fort von der Höhe. Es war keine Flucht, bewahre, nein! Er wußte nicht einmal, ob er gehen wollte. Er wollte es nur versuchen, und wollte auch gern wiederkommen. Aber der Abstieg war hier schwierig, und eigentlich musste man ihn hinter sich haben, ehe die Dunkelheit kam. Es wurde so schnell dunkel jetzt. Wenn er nur so weit kam, dass er wieder auf dem Wege stand, der vom Fischerdorf unten hier zur Höhe führte, ja, dann war keine Gefahr. Aber hier – oh, vorsichtig, vorsichtig! Einen ganz winzigen Schritt, einen kleinen und noch einen kleinen dazu. Nur ein Versuch; er würde ja wiederkommen.
(Björnstjerne Björnson – På Guds Veje)
~
Sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, alle vier.
Oder auch fünf, je nachdem, ob man Hulda dazu zählte oder nicht. Es herrschte Stille, nachdem Einars Mutter jedem eine Tasse Tee hingestellt hatte und sich an den Tisch gesetzt hatte. Einar wusste nicht wirklich, was er sagen sollte.
„Was hast du die ganze Zeit gemacht, Einar? Wo warst du?", wollte seine Mutter schließlich wissen. Hedvig sah sie nervös an und wiegte Hulda in ihrem Arm. Das kleine Mädchen war schon längst eingeschlafen, aber es schien Hedvig ungemein zu beruhigen.
„Ich war auf Tingelsædet, der kleinen Schäre vor der Küste. Ich habe dort ein ganz normales, einfaches Leben geführt. Ich... hatte dort einfach mehr Ruhe und mehr Zeit für mich selbst.", antwortete er. Seine Mutter nickte. Sie war nicht mehr so kalt wie früher, dachte Einar. Sie hatte sich verändert. Sie war weicher geworden. Vielleicht kam das durch das Alter, vielleicht auch durch seine Abwesenheit. Vielleicht bildete Einar sich das auch nur ein.
„Warum bist du denn so lange weggeblieben?", fragte sie. Sein Vater sah zwischen den beiden hin und her.
„Die Frage ist doch eher, warum er gerade jetzt wiedergekommen ist.", meinte er.
„Ich wollte einfach wieder mit euch reden. Und euch Hedvig vorstellen.", antwortete Einar. Er sah zu ihr. Sie hob den Blick und lächelte leicht.
„Ist sie deine Frau? Ist das dein Kind?", wollte seine Mutter wissen.
„Nein, ich... wir sind nicht verheiratet. Und das Kind ist nicht sein Kind.", antwortete Hedvig und schluckte. Es klang falsch. Es klang einfach falsch.
„Ist sie eine Hure?", fragte Einars Vater.
„Vater!"
„Nein, das bin ich auch nicht. Ich bin Fischerin. Aus Egersund. Ich weiß nicht, wer der Vater von Hulda ist. Ich... ich habe irgendeine Form von Gedächtnisverlust.", erwiderte sie.
„Natürlich. Junge, sie will doch nur an dein Geld.", meinte Einars Vater. Einar warf ihm einen bösen Blick zu.
„Ich habe sie gefunden. Sie war schiffbrüchig, da habe ich sie bei mir aufgenommen. Als sie aufwachte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Aber sie war schon schwanger. Wir haben einen relativ großen Teil ihre vorherigen Lebens irgendwie wieder aufgearbeitet. Ich wollte sie euch einfach nur vorstellen. Weil sie mir sehr viel bedeutet.", erklärte Einar. Hedvig lächelte ein wenig und sah dann zu seinen Eltern.
„Es freut mich wirklich, euch kennenzulernen.", meinte sie. Einars Eltern sahen sie einfach nur an. Es schien, als bräuchten sie Zeit, um das zu verdauen. Hedvig schaute unsicher zu Einar. Er nahm ihre Hand unter dem Tisch und hielt sie fest.
Seine Mutter hatte sich als Erste wieder gefangen. Sie lächelte ein wenig, auch wenn das Lächeln - wenigstens zum Teil - falsch war.
„Das ist schön. Ich glaube, wir brauchen ein wenig Zeit, um das alles zu verarbeiten. Immerhin haben wir Einar schon lange nicht mehr gesehen und jetzt kommt er mit einer fremden Frau und einer ungewöhnlichen Geschichte hierher. Aber ich hoffe, dass du dich trotzdem einigermaßen wohl fühlst.", sagte sie. Ihr Mann nickte nur, schien aber nicht wirklich überzeugt von ihren Worten zu sein.
„Es wird sicher noch genug Zeit bleiben, damit ihr euch kennenlernt. Ich weiß, dass das alles unglaubwürdig klingt...", begann Einar.
„Das tut es wirklich! Aber das ist ja vorerst egal. Wir freuen uns, dass du... dass ihr wieder zurück seid.", meinte sein Vater. Sein Tonfall war eher griesgrämig.
„Wollt ihr nicht... wollt ihr nicht zu Ostern vorbeikommen? Ihr könntet über Ostern bei uns bleiben, dann können wir uns kennenlernen. Wäre das nicht eine gute Idee?", wollte seine Mutter wissen.
Einar sah zu Hedvig. Sie lächelte strahlend.
„Ich glaube, Hedvig würde gerne kommen.", meinte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
Er wunderte sich darüber, wie sehr seine Eltern sich verändert hatten.
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Huset på skjæret - Das Haus auf der Schäre
General FictionEinar Andersen lebt allein auf einer Schäre vor der Küste Norwegens. Er hat seit vier Jahren mit keiner Menschenseele mehr geredet und kümmert sich eigentlich nur um sich und seine Insel. In einer stürmischen Nacht klopft allerdings ein junges Mädch...