Verstehen - Forstå

13 1 0
                                    

Verstehen – Forstå

Mein Gott – ich ersticke noch mit meinem brachliegenden Enthusiasmus in dieser banalen Zeit. Denn ich bedarf gewaltiger äußerer Emotionen, um glücklich zu sein. Ich sehe mich in meinen wachen Fantasien, immer als einen Danton, oder einen Mann auf der Barrikade, ohne meine Jacobinermütze kann ich mich eigentlich gar nicht denken. Ich hoffte jetzt wenigstens auf einen Krieg. Auch das ist nichts.
Mein Gott, wäre ich in der Französischen Revolution geboren, ich hätte wenigstens gewusst, wo ich mit Anstand hätte mein Leben lassen können. [...] all diese Leute können sich in diese Zeit eingewöhnen, sie alle, [...], Leute des Innern, können sich schließlich in jeder Zeit zurecht finden, ich aber, der Mann der Dinge, ich, ein zerrissenes Meer, ich immer in Sturm, ich der Spiegel des Außen, ebenso wild und chaotisch wie die Welt, ich leider so geschaffen, dass ich ein ungeheures, begeistertes Publikum brauche um glückselig zu sein, krank genug, um mir nie selbst genug zu sein, ich wäre mit einem Male gesund, ein Gott, erlöst, wenn ich irgendwo eine Sturmglocke hörte, wenn ich die Menschen herumrennen sähe mit angstzerfetzten Gesichtern, wenn das Volk aufgestanden wäre, und eine Straße hell wäre von Pieken, Säbeln, begeisterten Gesichtern,[...].
(Georg Heym, Tagebücher, 15.9.1911 (Auszug),1911)

~

Einar klammerte sich an Hedvigs Hand.
Er vergaß, dass er vor ihr nicht weinen wollte. Es war ihm alles egal. Sie musste ihn für einen Schwächling halten. Es war doch nicht so schlimm. Andere bekamen Schläge oder mussten ohne ihre Eltern leben. Er hatte ein relativ schönes Leben gehabt und es weggeworfen. Erbärmlich.
„Was ist mit deinem Bruder? Hat er irgendetwas dazu gesagt?", wollte sie wissen. Einar rückte etwas näher an sie heran, sodass sein Kopf an ihrem Bauch lag.
„Nein. Kein Wort. Zumindest nichts, an was ich mich erinnern wollen würde. Ich glaube, er hat sich über mich lustig gemacht. Er hatte ja auch alles Recht dazu. Ich bin nun einmal erbärmlich. Deswegen bin ich hierhergekommen. Ich wollte nichts mehr mit der Welt zu tun haben.", antwortete er. Er konnte ganz leicht ihren Herzschlag spüren. Sie umschloss seine Hand und lächelte ihn an.
„Nein, das bist du nicht Einar. Du bist überhaupt nicht erbärmlich. Im Gegenteil. Ich kann mir vorstellen, dass es verdammt schwer ist, in so einer Umgebung zu leben und sich nicht verbiegen zu lassen.", sagte Hedvig.
„Sie hätte doch mit mir reden können. Warum hat sie nicht mit mir geredet?", murmelte Einar vor sich hin. Seine Stimme war zittrig vom Weinen.
Hedvig sagte nichts. Sie strich ihm einfach nur weiter beruhigend durch die Haare. Warum war sie so anders? Er kannte keine Frau, die sich über eine Axt mehr freuen würde, als über teuren Schmuck und die lieber fischen ging, als auf Partys.
„Warum kann ich nicht in ein ganz einfaches Leben hineingeboren worden sein, Hedvig?", fragte er sie und sah in ihre grauen Augen.
„Dann wärst du wahrscheinlich nicht der, der du heute bist.", antwortete sie. Einar dachte kurz darüber nach. Sie hatte ja Recht. Sie hatte so recht. Er war doch zufrieden mit seinem jetzigen Leben. Und er wusste, dass es nicht besser war, mehr Geld zu haben. Wenn er das alles nicht erlebt hätte, hätte er es dann gewusst?
„Bleibst du bei mir?", wollte er leise von ihr wissen. Hedvig nickte, beugte sich zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Ja. Ich bleibe bei dir.", antwortete sie mit einem warmen Lächeln. Einar schloss die Augen und hörte auf ihren Herzschlag.
Sie verstand ihn. Sie verstand ihn tatsächlich.

Huset på skjæret - Das Haus auf der SchäreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt