Alter – Alder
„Das eben ist der Liebe Zaubermacht,
dass sie veredelt, was ihr Hauch berührt."
(Grillparzer)
~
Einar hatte nicht erwartet, dass sie noch schlafen würde.
Er dachte, sie wäre schon längst aufgestanden und fischen gegangen. Er dachte, er würde die Decke neben sich leer vorfinden – wie so oft. Er dachte, das Frühstück würde unten auf dem Tisch stehen, so wie jeden Morgen. Aber so war es nicht.
Hedvig lag noch neben ihm. Er konnte sich wie immer nicht sicher sein, ob sie wirklich noch schlief oder nicht. Vielleicht sollte er einfach aufstehen und frühstücken und nicht auf sie achten. Die gestrige Nacht hatte ihn verwirrt.
Es war seltsam, dass sie noch nicht wach war. Natürlich ging sie nicht jeden Tag fischen, aber sie stand trotzdem früh auf. Einar setzte sich auf. Ein wenig Licht fiel durch das Dachfenster. Es war kein Sonnenlicht, sondern einfaches, helles Tageslicht. Der Himmel war vermutlich von einer dünnen, grauen Wolkendecke verhüllt.
Einar warf noch einen letzten Blick auf Hedvig. Sie sah noch viel jünger aus, als sonst. Das musste an dem Licht liegen. Wie alt war sie noch einmal? Ein bisschen älter als zwanzig, wenn Einar sich richtig daran erinnerte.
Während er noch darüber nachdachte, stand er auf. Er ging mit möglichst leisen Schritten zur Treppe. Als er dort angekommen war, stellte er fest, dass er es nicht mehr wusste und dass es ihm wohl heute auch nicht mehr einfallen würde. Damit war das Thema vorerst für ihn erledigt. Er ging die Treppen herunter und dachte darüber nach, welche Arbeiten heute erledigt werden müssten. Es würde nicht nötig sein, Holz zu hacken oder jagen zu gehen.
Unten angekommen fiel sein Blick zuerst auf den Tisch. Er war mit einem ausgiebigen Frühstück gedeckt. Dort stand sogar eine ganze Kanne Kaffee und das, obwohl Einar noch nie mitbekommen hatte, dass Hedvig Kaffee trank.
Sie musste also schon wach gewesen sein. Sie musste so früh wach gewesen sein, dass sie Zeit gehabt hatte, dieses Frühstück zu machen, vielleicht selbst etwas zu essen und wieder zurück nach oben zu gehen. War sie vorhin wach gewesen oder war sie schon wieder eingeschlafen? Warum hatte er sie nicht bemerkt?
Einar machte auf dem Absatz kehrt und ging die Treppen wieder hinauf. Diesmal machte er sich keine Gedanken darüber, ob sie ihn hören konnte oder nicht. Sie sah immer noch aus, als würde sie schlafen. Einar ging langsam auf sie zu und kniete sich neben sie.

DU LIEST GERADE
Huset på skjæret - Das Haus auf der Schäre
Ficção GeralEinar Andersen lebt allein auf einer Schäre vor der Küste Norwegens. Er hat seit vier Jahren mit keiner Menschenseele mehr geredet und kümmert sich eigentlich nur um sich und seine Insel. In einer stürmischen Nacht klopft allerdings ein junges Mädch...