Aufeinandertreffen - Sammentreff
LEAR: Dein zart gestimmtes Herz gibt nimmer dich
Der Rauheit hin. Ihr Auge sticht, doch deins
Tut wohl und brennt nicht. Nie könntst du meine Freude
Mir missgönnen, mein Gefolg vermindern,
Mit herbem Zank mein Ausgesetztes schmälern,
Und endlich gar mit Kett und Riegel mir
Den Eintritt wehren. Nein, du lerntest besser
Die Pflichten der Natur, der Kindschaft Band,
Der Ehrfurcht Zoll, die Schuld der Dankbarkeit.
(König Lear; Shakespeare; 2.Akt, 4. Szene; Lear)
~
Hedvig war nervös.
Sie hätte es nie zugegeben, aber Einar sah es ihr an. Es war auch nicht schwer zu erkennen. Sie tippte die ganze Zeit mit ihrer Fußspitze auf den Boden und hielt oft für längere Zeit den Atem an. Sie schien gedanklich völlig abwesend zu sein.
Durch die Glasscheiben in der Tür konnte man einen Schatten erkennen, der sich dem Eingang näherte. Einar war sich nicht ganz sicher, wessen Schatten es war.
Die Tür öffnete sich. Zwei kühle, blaue Augen sahen ihn müde an. Blonde Haare, dickes Make-Up, teure Kleidung. Johanna.
„Hallo Einar. Du lebst also noch.", meinte sie mit einer müden Stimme. Das letzte Mal, als Einar diese Stimme gehört hatte, war sie stolzer. Stechender.
„Johanna. Ist Max schon da?", fragte Einar und schielte zu Hedvig. Sie musterte Johanna – seine Ex-Frau – interessiert.
„Nein, er muss arbeiten. Er kommt morgen Nachmittag vorbei.", antwortete sie, dann sah sie zu Hedvig.
„Ist das deine Neue?", wollte sie wissen. Hedvig schien aus ihren Gedanken hochzuschrecken und lächelte Johanna an.
„Ja, die bin ich. Hedvig Persen, hi.", erwiderte sie und gab Johanna die Hand. Diese sah nicht besonders begeistert aus.
„Freut mich.", meinte sie nur knapp. Dann ging sie nach drinnen und bedeutete den beiden, ihr zu folgen. Das Haus sah noch viel pompöser aus, als Einar es in Erinnerung hatte. Alles war noch moderner und noch kühler, als damals.
„Deine Mutter hat mir schon von ihr erzählt. Ihr wisst wirklich nicht, von wem das Kind ist?", wollte sie mit gespieltem Interesse wissen. Natürlich. Johanna stürzte sich liebend gern auf die Unsicherheiten der Menschen. Das war ihre Spezialität. Vielleicht war es auch das einzige, was sie konnte.
„Nein, ich weiß es nicht. Ich habe mein Gedächtnis fast komplett verloren. Mir wäre es auch lieber, wenn ich es wüsste.", entgegnete Hedvig.
„So? Naja, es ist unwahrscheinlich, dass daraus noch etwas wird, nicht? Was warst du noch einmal von Beruf? Fischerin?"
„Ja, genau."
„Eine ziemlich harte Arbeit, oder? Und ziemlich dreckig."
„Das stimmt. Aber ich sitze wenigstens nicht den ganzen Tag zu Hause und weiß nichts mit mir anzufangen. Ich bin an der frischen Luft, auf dem Meer und habe eine sinnvolle Aufgabe. Was will ich denn mehr?"
Johanna lächelte. Einar hoffte, dass sie nicht allzu beleidigend werden würde. Er traute es Hedvig zu, Johanna auf der Stelle einen ordentlichen Kinnhaken zu verpassen. Er hatte es noch nicht erlebt, dass Hedvig wirklich böse auf jemanden war, aber er traute ihr alles zu.
„Einar, ich hätte es mir eigentlich denken können, dass du irgendwann einmal so jemanden angeschleppt bringst. Du warst schon immer ein eher einfacher Typ Mensch.", sagte Johanna und ging den beiden voraus.
„Setzt euch doch schon mal nach drinnen. Deine Mutter kommt sicher gleich.", rief sie ihnen noch zu, dann verschwand sie um die Ecke.
„Was meint sie mit ,so jemanden'? Spielt sie auf ,flatterhaftes, stinkendes Fischweib' an?", murmelte Hedvig, sichtlich gereizt. Einar schüttelte den Kopf.
„Nimm sie nicht so ernst. Sie ist nun einmal, wie sie ist. Am besten ist es, du ignorierst sie. Es ist nur für zwei Tage. Ich hätte nicht geglaubt, dass sie immer noch so eisig ist, wie damals.", erwiderte er. Hedvig lachte.
„Eisig? Die Frau ist die Antarktis persönlich! Ich kann mir schon vorstellen, warum du es nicht lange mit ihr ausgehalten hast.", meinte Hedvig und lächelte. Sie ließ sich auf eines der Sofas fallen und seufzte.
„Die zwei Tage werden wir schon überleben, oder?", wollte sie wissen und grinste.
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Huset på skjæret - Das Haus auf der Schäre
Fiction généraleEinar Andersen lebt allein auf einer Schäre vor der Küste Norwegens. Er hat seit vier Jahren mit keiner Menschenseele mehr geredet und kümmert sich eigentlich nur um sich und seine Insel. In einer stürmischen Nacht klopft allerdings ein junges Mädch...