Die Familie - Familien

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Die Familie – Familien

Es war einmal ein Kaiser, der über ein unermeßlich großes, reiches und schönes Land herrschte. Und er besaß wie jeder andere Kaiser auch eine Schatzkammer, in der inmitten all der glänzenden und glitzernden Juwelen auch eine Flöte lag. Das war aber ein merkwürdiges Instrument. Wenn man nämlich durch eins der vier Löcher in die Flöte hineinsah – oh! Was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft darin, klein, aber voll Leben: Eine Thomasche Landschaft mit Böcklinschen Wolken und Leistikowschen Seen. Rezniceksche Dämchen rümpften die Nasen über Zillesche Gestalten, und eine Bauerndirne Meuniers trug einen Arm voll Blumen Orliks – kurz, die ganze moderne Richtung war in der Flöte.
Und was machte der Kaiser damit? Er pfiff drauf.
(Kurt Tucholsky, Märchen , 1907)

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Hedvig strich weiter beruhigend durch seine Haare.
„Mein Vater besitzt eine Firma. Eine ziemlich große sogar. Das heißt, unsere Familie hatte schon immer Geld. Ich bin so aufgewachsen. Es war immer Geld da, wir konnten uns alles leisten und natürlich auch das Beste vom Besten.
Ich habe einen älteren Bruder, Max. Er führt jetzt das Geschäft meines Vaters weiter. Mein Vater ist dazu nicht mehr in der Lage. Eigentlich hätten wir beide die Firma übernehmen sollen, aber da ich dann zum schwarzen Schaf der Familie geworden bin, hat sich das erübrigt.", begann Einar. Danach hielt er kurz inne. Er überlegte, wo er am besten anfangen sollte.
„Warum schwarzes Schaf?", wollte Hedvig wissen.
„Es hat in der Schule angefangen. Ich wurde auf eine ziemlich teure Privatschule geschickt, mit Internat und solchen Sachen. Meine Mutter hatte wahrscheinlich nie den Nerv gehabt, sich um mich zu kümmern. Ich glaube, alles, was sie interessiert hat, war Geld und Luxus. Ich bin eigentlich bei einem Kindermädchen aufgewachsen.
Mein Vater hatte angefangen zu trinken, als ich etwa fünf Jahre alt war. Ich weiß nicht, ob man ihn einen Alkoholiker nennen kann, aber er saß – und sitzt wahrscheinlich noch – jeden Abend in seinem Arbeitszimmer und trinkt ein Glas nach dem anderen. Wenn er das mal nicht macht, ist er ziemlich reizbar. Aber solange er abends seinen Alkohol hatte, ging es ihm den ganzen Tag über ziemlich gut, denke ich.
Meine Familie war eben eine typische, reiche Familie. Mein Bruder wurde ziemlich verzogen, genau wie ich. Mit dem Unterschied, dass mein Bruder sich das die ganze Zeit über gefallen lassen hat, während ich irgendwann angefangen habe, mich von dieser Art des Lebens abzuwenden.
Ich wollte nie so sein, wie meine Eltern. Ich wollte eigentlich lieber einfach leben, mit dem zufrieden sein, was ich hatte. Ich wollte eine nette kleine Familie, viele Kinder und eine nette, handwerkliche Arbeit.
Wie ich schon gesagt hatte, fing es in der Schule an. Ich ging immer öfter nach draußen, machte lange Spaziergänge durch die Natur und kapselte mich von allen anderen ab. Es war ein ganz nettes Leben. Mit den ganzen arroganten Sprösslingen von irgendwelchen Leuten mit viel Geld kam ich sowieso nie wirklich zurecht. Also gewöhnte ich mich an meine Einsamkeit. Das war nicht schlimm, wirklich nicht.
Nur haben meine Eltern das nicht gern gesehen. Sie haben ständig riesige Partys veranstaltet, in der Hoffnung, dass ich mich in ihre kleine Welt einlebe. Aber das wollte ich gar nicht. Sie haben das nicht verstanden, aber das war auch nicht das, was ich ihnen übel nehme. Ich nehme ihnen übel, dass sie auf Biegen und Brechen versucht haben, mich in diese gesellschaftliche Form zu pressen.
Mein Bruder hat wunderbar zu diesen Leuten gepasst. Ich habe ihn nie irgendwie hart arbeiten sehen. Er hatte auch immer irgendwelche kurzlebigen Affären, aber das war mir vorerst relativ egal, weil es mich nichts anging.
Er wurde also zum Vorzeige-Sohn für meine Eltern, während ich das schwarze Schaf wurde. So weit, so gut. Ich hasste diese Oberschicht, diese ganze arrogante, geldgierige Gesellschaft, aber ich konnte damit leben, dass meine Eltern mich einigermaßen in Ruhe ließen und ich mich einfach nur durch ihre Partys quälen musste.
Irgendwann wollte meine Mutter allerdings, dass ich anfing, mich nach einer Frau umzusehen. Ich hatte eigentlich noch nie groß daran gedacht, zu heiraten. Die jungen Mädchen, die ich durch meine Eltern kannte, waren alle hübsch und reich, aber sie waren genauso hinterhältig, verlogen und verzogen.
Aber wenn meine Mutter das eben so wollte, dann sollte sie es so haben. Ich schaute mich also nach einer Frau um, fand eine, von der ich dachte, dass wir uns vielleicht gegenseitig aushalten konnten und heiratete sie. Das war wohl der größte Fehler meines Lebens.
Ich hatte ja keine Ahnung von der Welt. Ich war die ganze Zeit über in meiner eigenen Welt. Eigentlich dachte ich, dass die Sache mit der Ehe ganz nett werden könnte. Aber das wurde es absolut nicht.
Ich hatte kein Problem damit, dass ich fast mein gesamtes Geld für sie ausgab. Ich hatte auch kein Problem damit, dass sie oft abends wegging, solange ich nicht mitkommen musste. Aber sie wollte immer mehr. Mehr Geld, ein größeres Haus, ein größeres Auto, mehr Luxus. Das war ja schön und gut.
Sie war trotzdem ständig unzufrieden. Ich hatte regelrecht Angst, von der Arbeit nach Hause zu kommen. Es war, als ob ich von einer Hölle – dem Büro meines Vaters – in eine andere Hölle rutschen würde – mein eigenes Zuhause.
Ich weiß nicht, was alle über mich geredet haben und es ist mir eigentlich auch egal. Jedenfalls wurden mir immer öfter böse Blicke von den Freunden meiner Eltern zugeworfen. Meine Frau war ziemlich beliebt in der High Society. Sie setzten mich die ganze Zeit über unter Druck. Wir sollten uns doch mal zusammen blicken lassen und so weiter und so fort.
Das ist mir zu viel geworden. Also bin ich immer öfter weggeblieben. Ich bin nach der Arbeit einfach in den Zug gestiegen und in irgendein kleines Dorf gefahren, um dort durch die Berge zu spazieren. Oder ich bin ans Meer gegangen und habe nachts im Freien geschlafen, ganz egal. Solange ich nicht Zuhause sein musste, war es mir egal.
Irgendwann kam ich einmal nach Hause und fand meinen Bruder mit meiner Frau. Die Sache ging schon über drei Monate. Dann habe ich meine Sachen gepackt und bin die ganze Nacht über gelaufen. Ich bin völlig ziellos durch die Gegend gelaufen. Als ich wieder nach Hause kam, habe ich das Grundstück auf Tingelsædet gekauft. Also im Prinzip die ganze Insel. Danach bin ich hierher gezogen und habe die Scheidung eingereicht.
Ich weiß, dass ich selbst schuld bin. Ich hätte mich mehr um meine Frau kümmern sollen, ich hätte mehr für sie da sein sollen, ich hätte mich besser an die Gesellschaft anpassen müssen, aber ich konnte einfach nicht. Ich konnte nicht."
Hedvig starrte einfach nur geradeaus. Einar sah zu ihr hoch. Eigentlich wollte er ihr nicht ins Gesicht sehen, aber er merkte, dass ihm Tränen in den Augen brannten. Und vor ihr weinen wollte er erst recht nicht.
„Du denkst auch, dass es meine Schuld ist, oder? Denkst du auch, dass ich ein Versager bin?", fragte er leise. Seine Stimme zitterte. Hedvig sah zu ihm herunter und lächelte.
„Nein. Nein, das denke ich nicht. Es ist nicht deine Schuld.", erwiderte sie. Einar sah wieder geradeaus.
„Sie hätte doch mit mir reden können. Sie hätte auch danach noch mit mir reden können. Ich war noch drei Tage lang in unserem Haus. Wenn sie mit mir geredet hätte, mir irgendeine Erklärung gegeben hätte – ich wäre nie gegangen. Aber sie war genauso kalt wie immer.", sagte er leise. Kalt – das war das richtige Wort. Sie war kalt, seine ganze Familie war kalt. Diese Gesellschaft war einfach nur kalt.
Einar griff nach Hedvigs Hand und hielt sie einfach nur fest. Sie war warm.

Huset på skjæret - Das Haus auf der SchäreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt