Kontrolle - Kontroll
Jüngst schlich ich meinem Mädchen nach,
und ohne Hindernis
umfasst' ich sie im Hain; sie sprach:
„Lass mich, ich schrei' gewiss!"
Da droht' ich trotzig: „Ha, ich will
Den töten, der uns stört!"
„Still", winkt sie lispelnd, „Liebster still,
damit dich niemand hört!"
(Johann Wolfgang von Goethe: Das Schreien nach dem Italienischen, 1767)
~
Sie lag auf dem warmen, nackten Stein.
Ihren Kopf hatte sie auf ihre Hände gebettet und ihre Beine waren leicht angewinkelt. Sie lag auf der Seite.
War sie tot?
Einar ging schnell und leise zu ihr. Er wollte nicht, dass sie aufwachte, falls sie doch nur schlief. Er kniete sich neben sie und versuchte, ihren Puls zu fühlen. Er fand ihn nicht.
Es war auch schwierig, ihn zu finden, wenn er sie nicht dabei wecken wollte. Er beobachtete sie genau. Ihre Kleidung war völlig trocken. Sie konnte also nicht gerade erst angespült worden sein. Die Frage war, ob sie noch trocken war oder ob sie wieder trocken war.
Sein Blick wanderte zu ihren Füßen. Sie waren völlig sauber. An ihren Fußsohlen klebten weder Erde, noch Zweige. Sie schien also nicht gelaufen zu sein. Oder sie war gelaufen und hatte ihre Füße im Wasser gewaschen.
Aber warum sollte sie dann hier schlafen?
Natürlich, es war angenehm warm draußen. Es war keine brennende Hitze, aber es war auch nicht kühl, trotz des leichten Windes.
Es war Einar immer noch ein Rätsel. Wer war dieses Mädchen? Was machte sie hier? Er konnte sie einfach nicht einschätzen. Das gefiel ihm nicht.
Einige Zeit später bewegte sie sich ein wenig. Sie schlief also nur. Einar atmete erleichtert aus und schaute in den Himmel.
Es waren kaum Wolken am Himmel zu sehen. Hedvig war nicht tot. Es war, als würde ihm ein riesiger Stein vom Herzen fallen. Gleichzeitig kehrte sein Ärger über sie zurück. Was machte sie denn hier? Ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen, ohne irgendeine Notiz zu hinterlassen? Warum war sie einfach so verschwunden?
Er konnte es nicht verstehen. Er sah sie wieder an. An ihrer Stirn konnte man immer noch die Wunde sehen. Sie hatte aufgehört zu bluten, schon lange, aber es hatte sich ein dickes, schwarzes Grind gebildet.
Die Wunde sah allerdings sauberer aus, als gestern Abend. Vielleicht war sie doch hierher gelaufen und hatte sich gewaschen.
Aber warum hatte sie dazu nicht das Bad benutzt? Dazu war es doch da, er hatte ihr sogar erlaubt, es zu benutzen! Warum tat sie es dann denn nicht? Er verstand es nicht. Er verstand sie nicht. Kein bisschen.
Jetzt sah er auch, dass sie atmete. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Sie trug eine weite Bluse, eine Art Tunika. Man konnte sich so keine Vorstellung von ihrer Figur machen. Der weite Stoff ließ sie nicht besonders zierlich wirken. Sie wirkte eher grob, wie eine Frau, die alle Härten schweigend ertrug.
Einar dachte wieder an den Morgen, als er sie beim Baden gesehen hatte. An die starken Arme und die schlanke Taille. Den zierlichen Hals und die helle, zarte Haut. Sie war wirklich nicht schön im üblichen Sinne. Aber trotzdem war sie gleichzeitig hübsch. Einar konnte es nicht beschreiben. Und er wollte es auch gar nicht erst versuchen.
Sie begann schon, sich jeden Tag an mehr zu erinnern. Sie würde sicher nicht mehr allzu lange bei ihm bleiben. Einar verscheuchte das Bild ihres Rückens aus seinen Gedanken.
Er schaute sich in der Umgebung um. Etwas weiter entfernt sah er einen Korb stehen. Er stand auf, um nachzuschauen, was darin war.
Er bemühte sich, weiterhin so leise wie möglich zu sein. Er wollte sie jetzt nicht wecken. Er wusste nicht, wie er dann reagieren würde. Irgendwie musste er sich erst ordnen, bevor er wieder mit ihr sprechen konnte.
In dem Korb waren einzelne Kräuter, Beeren und ein paar Pilze. Sie hatte sie wahrscheinlich auf der Insel gesammelt. Einar wunderte sich, dass man auf der spärlich bewachsenen Insel so viel Essbares finden konnte. Aber soweit er es einschätzen konnte, war alles in dem Korb essbar.
Plötzlich wusste er, was er tun musste, um wieder zu klarem Verstand zu kommen. Er musste weggehen. Jetzt wusste er, dass sie nicht tot war. Alles andere würde er später erfahren. Er konnte nicht länger hier bleiben. Er wusste nicht, was er tun oder sagen würde, wenn sie aufwachte. Einar hatte schon lange keine Kontrolle mehr über sich und seine Worte.
Nur hatte das in letzter Zeit niemanden mehr gestört.
Er fragte sich, was sie ihm erzählen würde. Ob sie ihn anlügen würde. Er traute ihr immer noch nicht recht über den Weg. Sie schien ihm immer mehr zu einer Gefahr zu werden.
Sie nahm nicht nur sein Haus und die Insel ein, sie begann auch langsam, seine Gedanken einzunehmen. Bald hätte sie sein ganzes Leben und er hätte nichts. Einar war schon einmal darauf hereingefallen, er würde es nicht wieder tun. Damals hatte alles mit Verrat geendet und damit, dass er sich auf die Schäre zurückzog.
Diesmal würde er sich nicht so leicht unterkriegen lassen. Er kannte das Mädchen nicht. Sie gehörte nicht zu seiner Familie und war keine seiner engsten Vertrauten. Es würde keinen Einfluss auf sein Leben haben, wenn er sie wegschickte.
Oder war sie in der letzten Zeit vielleicht doch zu einer Vertrauten geworden? Sie stand ihm näher, als irgendjemand anders.
Hatte sie schon angefangen, sein Vertrauen einzunehmen und für sich zu beanspruchen, um es dann wie eine eingekesselte Stadt aushungern und sterben zu lassen?
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Huset på skjæret - Das Haus auf der Schäre
Tiểu Thuyết ChungEinar Andersen lebt allein auf einer Schäre vor der Küste Norwegens. Er hat seit vier Jahren mit keiner Menschenseele mehr geredet und kümmert sich eigentlich nur um sich und seine Insel. In einer stürmischen Nacht klopft allerdings ein junges Mädch...