Instinkt - Instinkt

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Instinkt - Instinkt

„[...] Es ist ein hässlicher Fehler von mir, dass ich so leicht in einen Zustand des Nichtempfindens verfallen kann, und ich freue mich über jede Sache, die mich aus demselben reißt. Gestern las ich Ossians Darthula, und es wirkte so angenehm auf mich; der alte Wunsch, einen Heldentod zu sterben, ergriff mich mit großer Heftigkeit; unleidlich war es mir noch zu leben, unleidlicher, ruhig und gemein zu sterben. Schon oft hatte ich den unweiblichen Wunsch mich in ein wildes Schlachtgetümmel zu werfen, zu sterben. Warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges aber unverbesserliches Missverhältnis in meiner Seele; und es wird und muss so bleiben, denn ich bin ein Weib, und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd, so uneins mit mir. [...]"
(Karoline von Günderrode, Brief an Gunda Brentano)

~

Der nächste Tag war sehr schön.
Die Sicht war klar und der Himmel war beinahe wolkenlos. Es war noch immer nicht besonders warm, aber es war angenehm. Der Wind wehte nur leicht und trug den Geruch des Meeres in die Stadt und den Hafen.
Hedvig war schon früh auf den Beinen. Sie musste es irgendwie geschafft haben, sich nach draußen zu schleichen. Als Einar aufwachte, hatte sie schon ein Frühstück organisiert und Kaffee gekocht. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie sie das so schnell und vor allem geräuschlos geschafft hatte.
Es war das erste Mal seit sie auf die Insel kam, dass Einar sie in anderen Sachen als dem langen Rock und dem Fischerhemd sah.
Sie trug eine bequeme Stoffhose, flache, feste Schuhe und ein kariertes Hemd. Ihre Haare hatte sie wie immer zu einem strengen Zopf gebunden.
Einar fragte sich, wie sie mit offenen Haaren aussah. Er hatte sie noch nie ohne zusammengebundene Haare gesehen. Ob ihre Haare lockig waren? Vielleicht hatte sie widerspenstige, rötliche Locken. Vielleicht waren sie aber auch völlig glatt.
Einar war erstaunt über die Tatsache, dass Hedvig das Boot schon fast wie selbstverständlich zum Auslaufen klar machte. Das Frühstück, das auf dem Tisch stand, hatte ihn schon genug überrascht, aber als er an Deck kam und sie dort arbeiten sah, war er noch verblüffter.
„Was machst du da?", fragte er sie. Sie drehte sich um und lächelte.
„Guten Morgen!", rief sie ihm zu.
„Was machst du da?", wiederholte er völlig monoton, als käme seine Stimme von einem Tonband. Sie arbeitete unbeirrt weiter.
„Ich dachte, du wolltest zurück nach Tingelsædet?", meinte sie in einem fragenden Tonfall. Er nickte ein wenig abwesend.
„Ja, schon, aber... was tust du da?", wollte er erneut wissen. Er verstand es nicht. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf gehen, dass eine junge Frau früh am Morgen aufstand, sich um das Essen kümmerte und dann ein Boot klarmachte.
„Na, ich bereite unsere Abfahrt vor.", antwortete sie und ihr Lächeln wurde breiter.
„Weißt du, was du machst?", fragte er sie skeptisch. Sie sah plötzlich unsicher aus und sah auf ihre Hände.
„Ich... ja, eigentlich schon. Keine Ahnung, es ist doch irgendwie logisch, oder?", erwiderte sie. Einar kam auf sie zu und schaute sich ihre Arbeit an. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf.
„Ja. Ja, es ist logisch. Woher kannst du das?", wollte er wissen und musterte sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Verwunderung. Hedvig sah ihn an und wirkte plötzlich ratlos. Dann lachte sie laut auf.
„Ich weiß es auch nicht, wirklich! Ich habe es einfach gemacht. Ich weiß nicht, woher ich das weiß... wahrscheinlich habe ich es irgendwann einmal gelernt und es kommt so langsam wieder. Keine Ahnung.", meinte sie und zuckte mit den Schultern.
Einar runzelte die Stirn. Sie machte das alles richtig. Sie ging mit den Leinen, Tauen und Tampen um, als hätte sie das schon ihr Leben lang gemacht. Sie kam damit sogar besser zurecht, als er selbst. Einar hatte das Fischerboot erst seit sieben Jahren. Er hatte es sich zugelegt, kurz bevor er nach Tingelsædet gekommen war.
„Hast du auch das Frühstück gemacht?", fragte er.
„Ja. Ich habe es stehen lassen, weil du doch bestimmt auch noch etwas essen willst. Ich habe schon gefrühstückt.", erwiderte sie.
„Wann bist du aufgestanden?"
„Ich weiß es nicht so genau. So gegen halb oder um fünf würde ich sagen. Es war auf jeden Fall noch dunkel draußen."
Einar nickte abwesend. Es blieb gar nichts mehr übrig, was er noch machen konnte. Er konnte sich nur hinsetzen und frühstücken.

Huset på skjæret - Das Haus auf der SchäreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt