Zwei Möglichkeiten – To muligheter
MACBETH: Schlaf, der des Grams verworr'n Gespinst entwirrt,
Den Tod von jedem Lebenstag, das Bad
Der wunden Müh, den Balsam kranker Seelen,
Den zweiten Gang im Gastmahl der Natur,
Das nährendste Gericht beim Fest des Lebens.
(Shakespeare; Macbeth; 2. Akt, 2. Szene; Macbeth)
~
Die Tür schwang kaum hörbar auf.
Sie konnte sich wahrscheinlich komplett geräuschlos bewegen, wenn sie das wollte. Einar fragte sich in diesem Moment, wie ihre Beine aussahen. Waren es starke Beine mit dicken Muskelschichten? Oder waren es dünne, schlanke Beine, mit denen sie sich so lautlos bewegte?
Sie hatte den Korb in der Hand. Sie humpelte ein klein wenig. Einar war sich nicht sicher, ob das von ihrem Knöchel kam oder von etwas anderem. Vielleicht kam es einfach daher, dass sie barfuß gelaufen war.
Ohne ein Wort zu sagen wandte sie sich der Treppe zu und machte sich daran, nach oben zu gehen. Sie sagte kein Wort. Sie musste bemerkt haben, dass Einar sie ansah, aber sie schwieg einfach. Wusste sie, dass er sie gefunden hatte?
„Wo warst du?", wollte er von ihr wissen, als sie auf der zweiten Treppenstufe stand. Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
„Interessiert es dich wirklich?", fragte sie in einem gleichgültigen Tonfall. Einar merkte, wie die Wut wieder in ihm aufstieg. Was war ihr Problem? Warum antwortete sie nicht einfach? Er hatte ihr nichts getan, oder?
Einar stand auf und war mit zwei schnellen Schritten bei ihr. Er drehte sie an ihren Schultern so, dass sie ihn ansah. Sein Vorteil war, dass er um einiges größer war, als sie. So konnte er auf sie herabschauen. Er hatte damit wenigstens das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben.
„Ja, es interessiert mich! Verdammt, hast du auch nur die leiseste Ahnung, welche Sorgen ich mir um dich gemacht habe?", sagte er in einem scharfen, eindringlichen Tonfall.
Sie musste wissen, dass er wirklich wütend war. Es war kaum zu überhören. Aber sie lächelte nur schwach. Sie schien nicht wirklich davon überzeugt zu sein.
„Ach, tatsächlich? Naja, hier bin ich, es geht mir gut. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Und ich glaube trotzdem, dass es dich nicht interessiert.", meinte sie nur. Ihr Tonfall klang verächtlich und spöttisch.
„Wo warst du, verdammt nochmal? Sag' es!", rief er und verstärkte den Griff um ihre Schultern. Sie schüttelte nur den Kopf und sah ihm direkt in die Augen.
„Nein."
In seinem Kopf herrschte ein völliges Durcheinander. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Sie ließ sich nicht einschüchtern. Was wollte sie erreichen? Wollte sie sehen, ob es ihm ernst war? In diesem Moment gab es in seinem Kopf nur zwei Optionen. Nur zwei Dinge, die er tun konnte, wollte oder sollte. Nicht einmal das wusste er so genau. Er musste sich nur noch zwischen den beiden Dingen entscheiden. Beides wäre fatal. Beides würde in einer Katastrophe enden. Beides wäre absolut inakzeptabel.
Sollte er sie küssen oder sie schlagen?
Er schlug sie. Es war eine laut schallende Ohrfeige.
Sie war ein wenig zur Seite gestolpert und hielt sich am Geländer fest. Einar wollte nicht wahrhaben, dass er sie eben wirklich geschlagen hatte. Eine Frau. Eine schwangere Frau.
Er wusste nicht mehr, was er tat. Er hatte völlig die Kontrolle über sich verloren. Und schon wieder war sie Schuld daran. Hatte sie ihn provoziert? Vielleicht.
Trotzdem war es kein Grund, sie zu schlagen. Einar starrte mit offenem Mund seine Hand an. Er hatte sie eben geschlagen. Ihr eine Ohrfeige gegeben. Und keine sanfte. Es war eine ziemlich heftige Ohrfeige.
Sollte er sich jetzt entschuldigen? Was würde das bringen? Es war geschehen. Es war nicht mehr rückgängig zu machen. Eine Entschuldigung – wären das nicht nur leere Worte? Er konnte hier nichts mehr wiedergutmachen. Es war unmöglich, unumkehrbar.
Sie hatte nicht geschrien. Sie weinte nicht. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, hielt sie sich nur ihre Wange. Sie sah ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Herausforderung an. Ihre grau-blauen Augen brannten sich in sein Gedächtnis ein.
Er legte eine Hand auf ihre Schulter, vielleicht um sie festzuhalten, um das zu retten, was noch zu retten war. Sie riss sich los und stieß ihn von sich weg.
Einar war von der Kraft hinter dem Stoß überrascht. Er hatte zwar ihre starken Arme gesehen, aber er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie so viel Kraft hatte. Er stolperte die beiden Treppenstufen nach unten und hielt sich am Geländer und an der Wand fest. Er wäre sicher gefallen, wenn er ein bisschen später reagiert hätte.
Sie sah noch einmal auf ihn herunter. In ihrem Blick lag ihr gesamter Stolz. Einar glaubte fast, ein kleines Lächeln darin zu erkennen. Dann drehte sie sich um und verschwand nach oben auf den Dachboden.
In dieser Nacht konnte er kaum schlafen. Ihr Blick wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Ein paar Mal fiel er in einen unruhigen, leichten Schlaf, aber er wachte schnell wieder auf.
Sie schien keinerlei Schmerz zu empfunden zu haben, als er sie geschlagen hatte. Er konnte immer noch nicht verstehen, wie es so weit gekommen war. Sie hatte ihn doch nicht wirklich provoziert. Oder hatte sie das doch?
Er wusste nicht einmal, ob er sie eigentlich schlagen wollte oder nicht. Er wusste gar nichts mehr. Er war eigentlich nie jähzornig oder gewalttätig gewesen. War das eine Art Schutzreaktion? Eine Verteidigung? Andere zu verletzen, bevor sie ihn verletzen konnte. Er musste zugeben, dass er Hedvig immer noch nicht traute.
Wollte er sie loshaben? Sie verschrecken, sodass sie freiwillig gehen würde, bevor er anfing, ihr wirklich zu vertrauen?
Andererseits war sie oft wirklich eine große Hilfe. Würde sie ihm verzeihen können?
Hatte sie vorhin auf der Treppe gelächelt? Das würde doch heißen, dass sie ihm verziehen hätte. Warum sollte sie lächeln? Sie hatte bestimmt nicht gelächelt. Er hatte sich das eingebildet. Ganz sicher.
Mit solchen und ähnlichen Gedanken fiel er wieder in einen unruhigen Schlaf. Erst am nächsten Morgen wachte er wieder auf.
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Huset på skjæret - Das Haus auf der Schäre
General FictionEinar Andersen lebt allein auf einer Schäre vor der Küste Norwegens. Er hat seit vier Jahren mit keiner Menschenseele mehr geredet und kümmert sich eigentlich nur um sich und seine Insel. In einer stürmischen Nacht klopft allerdings ein junges Mädch...