In der Kälte - I kulden

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In der Kälte – I kulden

„Man büßet dafür so manches Jahr,
Was ärmliche Freuden waren;
Man lächelt es vor in dem Augenblick,
Doch weinen muß man in Jahren.
Es rinnet Leid, rinnet Harm von roten Rosen."
(Man büßet dafür...; Jens Peter Jacobsen)

~

Es wurde schon dunkel.
Es waren immer noch dichte Wolken am Himmel und es sah aus, als würde es bald regnen. Heute würden sie wohl mit dem kleinen Boot im Hafen bleiben müssen.
Hedvig saß in eine Decke eingewickelt auf dem Holzboden. Einar hatte die Tatsache, dass sie schwanger war, einfach im Raum stehen lassen und sich erst einmal um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert.
Erst später – als er seinen ersten Schock überwunden hatte- war er zurück an Deck gekommen. Hedvig stand immer noch an der Bordwand und starrte aufs Meer.
Sie hatte wieder angefangen zu weinen. Sie tat ihm leid. Wahrscheinlich hätte er nicht so ohne weiteres verschwinden sollen.
Er ging wieder zurück unter Deck, holte die Decke und setzte den Tee auf. Es war inzwischen schon sehr kalt draußen geworden.
Er gab ihr die Decke ohne ein Wort zu sagen. Sie bemühte sich, ein dankbares Lächeln zustande zu bringen und wickelte die Decke um ihre Schultern.
Er hatte sich neben sie gestellt und so standen sie eine Weile schweigend nebeneinander und schauten auf das Meer hinaus.
Einar bemerkte das erste Mal, wie gewaltig es wirkte. Im Moment sah es friedlich und ruhig aus, aber es konnte gleichzeitig stark und mächtig sein. Man sollte es sich nicht zum Feind machen. Das war der Schluss, zu dem Einar kam. Er wandte den Blick vom Meer ab und schaute zu Hedvig.
Sie weinte noch immer still. Die Tränen liefen einfach ihre Wangen hinunter, ohne dass sie versuchte, sie abzuwischen. Ihr Gesicht war bleich von der Kälte und aus ihrem straffen Zopf hatten sich einige Strähnen gelöst, die jetzt im Wind in alle Richtungen wehten.
„Du bist also schwanger.", sagte Einar, nachdem er sie eindringlich gemustert hatte. Sie nickte.
„Ja, das bin ich wohl.", erwiderte sie.
„Es nützt wahrscheinlich nichts, wenn ich dich frage, wer der Vater ist, oder?", wollte er wissen. Sie lachte leise auf.
„Nein, wahrscheinlich nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Vielleicht habe ich irgendwo eine Familie, die auf mich wartet. Vielleicht ist das Kind auch ungewollt. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich überhaupt bin.", sagte sie ruhig. In ihrer Stimme schwang eine gewisse Resignation aus Verzweiflung mit.
„Warum wolltest du nicht zum Arzt gehen?", fragte er dann. Sie seufzte nur auf.
„Weil ich Angst hatte. Wenn sie mitbekommen hätten, dass ich mich an mein ganzes Leben nicht mehr erinnern kann, dann hätten sie mich in ein Krankenhaus gebracht. Dann wäre ich schon wieder völlig bei null gewesen."
Einar nickte. Das klang einleuchtend. Und er hatte sie beschuldigt, ihn anzulügen. Idiot.
„Du hast ihnen also nicht gesagt, dass du keine Erinnerungen mehr hast?"
„Nein, ich konnte es gut genug überspielen."
Sie schwiegen sich wieder eine Weile lang an. Einar dachte darüber nach, ob sie nicht vielleicht doch gelogen haben konnte. Allerdings klang das, was sie sagte, wahr. Die Geschichte war zu unglaublich, um sie sich einfach auszudenken.
„Was willst du jetzt machen?", wollte er von ihr wissen.
„Ich weiß es nicht. Ich habe ja nicht viele Möglichkeiten. Das hängt jetzt ganz von dir ab."
Einar schaute wieder aufs Meer. Der Himmel verdunkelte sich langsam und die Nacht brach herein. Ihm fiel der Tee wieder ein, den er kochen wollte.
„Du kannst bleiben, wenn du willst.", sagte er und ging zurück unter Deck.

Jetzt saß sie mit dem Tee in der Hand auf den Holzplanken und sah gedankenverloren geradeaus. Manchmal lächelte sie vor sich hin.
Einar wusste nicht, ob er sie jetzt stören sollte, oder nicht. Sie schien gerade relativ glücklich zu sein. Aber vielleicht täuschte er sich auch nur.
„Wir müssen heute Nacht wohl im Hafen bleiben. Es sieht nach einem Sturm aus.", sagte er zu ihr. Sie sah auf, lächelte und nickte.
„Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie meine Familie sein könnte. Vielleicht habe ich Geschwister. Wahrscheinlich bin ich sogar verheiratet.", meinte sie dann und schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf.
„Nein.", erwiderte Einar.
„Was nein?", wollte sie wissen.
„Du bist nicht verheiratet. Du trägst zumindest keinen Ring."
Sie sah ihn kurz verwirrt an, dann schaute sie auf ihre Hände. Verblüfft stellte sie fest, dass da kein Ring war.
„Tatsächlich. Darauf habe ich gar nicht geachtet.", meinte sie und lachte wieder. Dann lehnte sie ihren Kopf an die Bordwand und schaute in den dunklen Himmel.
„Ich habe so ein verdammtes Glück, dass ich auf einer bewohnten Schäre gelandet bin.", sagte sie dann und sah ihn lächelnd an.
Einar fröstelte ein wenig. Es war wirklich kalt inzwischen. Man sollte die frühen Frühlingsnächte nicht unterschätzen, vor allem in Norwegen nicht.
„Allein wäre ich völlig lebensunfähig gewesen.", fügte Hedvig dann hinzu und schaute wieder zur Wolkendecke hinauf.
„Ist dir nicht kalt?", fragte Einar.
„Ein bisschen.", gab Hedvig zu, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden.
„Komm rein. Es ist zwar nicht viel Platz in der kleinen Kabine, aber es wird schon reichen."
Sie nickte und stand vom Boden auf, den Tee in einer Hand und die Decke in der anderen.

Huset på skjæret - Das Haus auf der SchäreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt