Berührung – Streif
Was ist eine Frau, daß du von ihr kannst gehn,
läßt Herdfeuer und den Hausacker stehn,
um die graue Witwenmacherin zu sehn?
Sie hat kein Haus, um zu lagern den Gast -
nur ein kaltes Bett für alle zur Rast,
in dem Eisberge nisten, und die Sonne verblaßt.
Sie hat keine Arme, die stark dich umfalten,
nur den zehngefingerten Tang, dich zu halten -
auf den Felsen, wo Flut dich hinrollt, den kalten.
(Harfenlied der dänischen Frauen, Rudyard Kipling)
~
Einars Bett war noch viel kleiner, als das von Hedvig.
Das hieß, dass sie noch enger zusammenrücken mussten, als gestern. Und heute war kein Alkohol im Spiel. Dafür waren eine Menge Gefühle im Spiel.
Es waren keine trivialen Gefühle, wie Liebe oder so etwas. Einar wusste nicht, wie er es hätte beschreiben können. Vielleicht war es auch so etwas wie Liebe. Jedenfalls war es nicht das, was man aus Büchern oder dem Fernsehen kannte. Es ging tiefer.
Einar hatte seine Arme um Hedvig gelegt und sie war nahe an ihn heran gerutscht. Anders hätten sie wohl kaum Platz in dem schmalen Bett gefunden.
Außerdem wusste Einar sowieso nicht, wie ihre Beziehung zueinander im Moment war. Sie hatten nie darüber geredet und Einar wollte es auch nicht unbedingt ansprechen. Er war über die unklaren Grenzen im Moment relativ glücklich. Dadurch war alles erlaubt. Man musste sich nicht unbedingt festlegen und die ganze Sache noch komplizierter machen, als sie schon war.
Hedvig schien die Unklarheit auch nicht zu stören, im Gegenteil. Sie schien es regelrecht zu genießen, ihn immer wieder dazu zu bringen, seinen Verstand völlig abzuschalten.
Hedvig schaffte es. Sie schaffte es, ihn von seiner Vorsicht abzuhalten. Ihn davon abzuhalten, sich endlos den Kopf zu zerbrechen. Und er war ihr dankbar dafür. Meistens. Manchmal war ihm diese Ablenkung auch ungelegen, aber er konnte nicht behaupten, dass er sich wirklich über sie ärgerte.
Sein einziges Problem war, dass er nie wusste, wie weit er gehen durfte. Durfte er über diesen grenzwertigen Bereich hinausgehen? Hatte er das schon getan?
Es war ihm egal. Jetzt, in diesem Moment zumindest. Hedvig lag neben ihm, in seinen Armen, so nah, dass er ihre Brüste spüren konnte, wenn sie einatmete. Ihr Geruch umfing ihn, ihr natürlicher, wohliger Geruch, mit dem er sich so geborgen fühlte. Ihre kühlen Hände lagen auf seinem Rücken und ihre Haare streiften seine Schulter.
Sie schlief noch nicht. Ihr Atem war zu ungleichmäßig dafür. Ihr Atem, der Einars Nacken leicht streifte. Ihre Augen waren allerdings geschlossen.
„Ist das okay so? Oder soll ich lieber auf dem Boden schlafen?", fragte Einar schließlich. Er hatte sich lange zu dieser Frage durchringen müssen. Er wollte weiter so nahe bei ihr sein.
„Wenn es nicht okay wäre, würde ich das schon sagen.", murmelte sie. Ihre Lippen berührten beim Sprechen fast seinen Hals. Sie hatte die Augen noch immer geschlossen.
Einar spürte, wie ihr Bein seines berührte. Er konnte nicht wirklich einordnen, ob es Absicht war oder nur ein Versehen.
Er zog Hedvig noch ein wenig näher an sich heran. Er hatte in den letzten Tagen all seine Prinzipien, die er in Bezug auf sie hatte, gebrochen. Was würde das jetzt also noch für einen Unterschied machen?
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Huset på skjæret - Das Haus auf der Schäre
Genel KurguEinar Andersen lebt allein auf einer Schäre vor der Küste Norwegens. Er hat seit vier Jahren mit keiner Menschenseele mehr geredet und kümmert sich eigentlich nur um sich und seine Insel. In einer stürmischen Nacht klopft allerdings ein junges Mädch...