Nächster Morgen – Nesten morgen
2
Heil dem Geber! Der Gast ist gekommen:
Wo soll er sitzen?
Atemlos ist, der unterwegs
Sein Geschäft besorgen soll.
3
Wärme wünscht der vom Wege kommt
Mit erkaltetem Knie;
Mit Kost und Kleidern erquicke den Wandrer,
Der über Felsen fuhr.
4
Wasser bedarf, der Bewirtung sucht,
Ein Handtuch und holde Nötigung.
Mit guter Begegnung erlangt man vom Gaste
Wort und Wiedervergeltung.
5
Witz bedarf man auf weiter Reise;
Daheim hat man Nachsicht.
Zum Augengespött wird der Unwissende,
Der bei Sinnigen sitzt.
(Hávamál, Übersetzung von Joseph Simrock, Auszug)
~
Die Fremde schlief noch, als Einar Andersen am nächsten Morgen aufwachte.
Ihre Haare und ihre Kleidung waren fast vollständig getrocknet. Durch eines der Fenster fiel Sonnenlicht. Erst jetzt konnte Einar sehen, welche Farbe ihre Haare hatten.
Sie waren braun. Nicht besonders hell oder dunkel, sondern einfach nur braun. Sie hatten einen ganz leichten rötlichen Schimmer, aber nur wenn man genau hinsah.
Er war aufgestanden und hatte einen Tee gemacht. Damit würde er wahrscheinlich nichts falsch machen, dachte er sich. Das Mädchen schlief immer noch tief und fest.
Einar überlegte, ob er das Feuer wieder anzünden sollte, während sie noch schlief, aber er konnte ja nicht wissen, ob sie in der Zwischenzeit aufwachen würde oder nicht. Es war sicherer, wenn er neben dem Bett sitzen blieb.
Einar fragte sich, ob sie wirklich vor Erschöpfung umgekippt war. Was, wenn sie irgendeine ansteckende Krankheit eingeschleppt hatte? Einen Moment lang hatte Einar Andersen Angst, dass die fremde Frau tot war.
Er sah sie sich noch einmal genau an und versuchte zu erkennen, ob sie noch irgendwelche Lebenszeichen zeigte. Nachdem er sie eine Weile mit Blicken fixiert hatte, stellte er beruhigt fest, dass sie noch atmete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich und er konnte ihren leisen Atem gerade noch hören.
Draußen wurde es sicher langsam wärmer. Vielleicht sollte er das Fenster öffnen? Ein bisschen frische Luft würde dem Mädchen bestimmt gut tun. Wenn es nicht zu kalt war. Einar ertappte sich dabei, wie er zu dem Fenster schielte. Seine Gedanken begannen, abzuschweifen.
Plötzlich hörte er ein Rascheln. Er richtete seinen Blick sofort wieder auf das Bett, in dem die fremde Frau schlief.
Gerade noch so erhaschte er einen Blick auf zwei erschrockene graue Augen. Sie stellte sich sofort wieder schlafend. Hatte sie Angst?
„Du bist wach.", stellte er fest und war sich nicht sicher, ob er mit sich selbst oder mit ihr sprach. Er hatte lange nicht mehr mit anderen Menschen gesprochen.
Sie öffnete widerwillig ihre Augen und sah ihn erschrocken, aber doch ein wenig neugierig an. Ein lähmender Gedanke schoss Einar durch den Kopf. Was, wenn sie stumm war?
„Kannst du sprechen?", fragte er sie. Sie nickte nur und schaute sich verwirrt um. Einar hielt ihr die Tasse Tee entgegen. Sie schaute hinunter und nahm sie zögerlich an.
„Danke.", entgegnete sie ihm und wärmte ihre Hände an der Tasse. Sie hatte sich hingesetzt, die Beine eng an ihren Körper gezogen.
Einar schwieg. Er wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte. Wenn sie etwas wissen wollte, würde sie doch fragen. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Knistern des Feuers, ein leichter Wind, der durch das Haus zog und das Schlucken der Fremden.
„Ich gehe nach draußen und..."
„Nein, warte!"
Einar sah die junge Frau erstaunt an. Auf was sollte er denn warten? Sie schien ihm keine Erklärungen liefern zu wollen, also würde er auch nicht darum fragen. Wenn sie ihre Geschichte für sich behalten wollte, dann war das ihre Sache.
„Du hast mich gestern nach dem Sturm aufgenommen, oder? Das hier ist dein Haus, nicht wahr?", fragte sie.
„Ja.", antwortete Einar. Seine Antwort kam ihm etwas zu knapp vor, aber was gab es denn noch zu sagen?
„Es tut mir Leid, dass ich dir solche Umstände bereitet habe. Danke.", sagte sie leise.
„Ist in Ordnung.", meinte er. Er setzte sich auf seinem Stuhl auf und wartete, ob sie noch etwas erwidern würde. Sie sagte nichts, sondern schaute sich nur um. Sie schien nicht mehr ängstlich zu sein, aber sie wirkte ziemlich verwirrt.
„Wo bin ich überhaupt?", wollte sie nach einer längeren Pause wissen.
„Auf Tingelsædet.", antwortete Einar. Irgendwie musste er herausbekommen, wie er diese Frau loswerden konnte. Sie konnte nicht zu lange hier bleiben.
„Weißt du... zufällig... wie ich hierhergekommen bin?", fragte sie leise. Einar war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. Sie musste doch eigentlich am besten wissen, wie sie hierhergekommen war.
„Du standest nur mitten in der Nacht vor der Tür und hast geklopft. Ich habe aufgemacht. Du bist umgekippt. Es hat geregnet, deswegen habe ich dich mit nach drinnen genommen. Mehr weiß ich nicht.", erwiderte er.
Sie schaute ihn ein wenig bedrückt an. Dann trank sie einen letzten Schluck Tee und stellte die Tasse auf dem Fensterbrett ab. Sie sah noch immer verwirrt und erschöpft aus.
„Vielleicht sollte ich mich noch ein bisschen ausruhen.", meinte sie. Einar nickte und stand auf. Er hatte noch eine Menge zu tun. Sie konnte sich ruhig ausruhen. Vielleicht würde sie ihm dann mehr erzählen.
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Huset på skjæret - Das Haus auf der Schäre
General FictionEinar Andersen lebt allein auf einer Schäre vor der Küste Norwegens. Er hat seit vier Jahren mit keiner Menschenseele mehr geredet und kümmert sich eigentlich nur um sich und seine Insel. In einer stürmischen Nacht klopft allerdings ein junges Mädch...