Verschwunden - Forsvunnet

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Verschwunden - Forsvunnet

Erhaben und in einsamer Größe reckte sie sich bis unters Werkhallendach; schuf sogleich die Vorstellung, Monument des Zeitalters zu sein und diesem gleich: stampfend gefahrvoll, monoton und reichlich übertrieben. Und vor allem: auch sie produzierte einzig und allein durch gegensätzliche Bewegung unterschiedlicher Kräfte, durch einen gezähmten Antagonismus all ihrer Teile.
Aber in diesem wundervollen System blitzender Räder, blinkender Kolben, sich hebender und sich senkender Wellen, war ein unansehnliches Teil, das wie von Schimmel überzogen schien und das sich plump und arhythmisch regte. Ein hässlicher Zusatz an der schönen Kraft. Ein Rest von Mattigkeit inmitten der Dynamik.
Als um die Mittagszeit ein Pfiff ertönte, löste sich dieses Teil von der Maschine und verließ die Halle, während die Maschine hilflos stehen blieb, zwiefach: in sich und am Ort. Plötzlich erwies sich, das billigste Teil und das am schlimmsten vernachlässigte war das teuerste und nur scheinbar ersetzlich. Wo es kaputt geht, wird es nicht lange dauern, bis über den Beton Gras gewachsen ist.
(Günter Kunert: Die Maschine, zwischen 1968-1972)

~

Sie war verschwunden.
Einar hatte schon so gut wie überall nach ihr gesucht. Sie war einfach weg. Sie war nicht oben und schlief noch, sie saß auch nicht am Tisch oder in dem Sessel, sie war nicht im Bad und auch nicht in der kleinen Sauna.
Der Geräteschuppen war leer und auch in den Ställen war niemand. Sie war auch nicht im Boot oder mit dem Pferd ausgeritten. Alles war da, wo es sein sollte, nur Hedvig fehlte.
Selbst im Wasser war sie nicht. Sie konnte allerhöchstens einen Spaziergang machen und irgendwo auf der Schäre sein. Aber das glaubte Einar nicht. Sie hatte zwar letztens Gelegenheit gehabt, sich umzusehen und sich die Gegend einzuprägen, aber sie würde doch nicht um diese Zeit spazieren gehen, oder?
Sie hatte außerdem keine Schuhe angezogen. Alle ihre Schuhe standen noch säuberlich vor dem Heuhaufen, der ihr Bett war. Einar hatte sie nachgezählt, mehrmals sogar. Sie würde doch nicht ohne Schuhe nach draußen gehen! Seine eigenen Schuhe waren auch noch vollzählig, das hieß, sie konnte auch keine Schuhe von ihm genommen haben.
Aber sie musste noch auf der Insel sein. Irgendwo. Sie konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben. Früher oder später würde sie wohl wiederkommen. Einar gab seine suche auf, nachdem er den Wald sporadisch nach ihr durchsucht hatte.
Wenn sie nicht mehr auftauchen sollte, dann sollte ihm das auch Recht sein, oder? Immerhin hatte er die ganze Zeit etwas dagegen gehabt, das sie hier war. Gestern war die Situation ein bisschen aus dem Ruder gelaufen.
Einar würde es nicht unbedingt, einen Streit nennen. Es war kein wirklicher Streit. Es war mehr eine Auseinandersetzung. Ein Streit ohne Worte.

Einar machte sich daran, seine alltäglichen Aufgaben zu erfüllen. Er fütterte die Tiere, kümmerte sich um die Pflanzen, führte ein paar Ausbesserungsarbeiten am Haus durch. Holz brauchte er nicht mehr zu hacken. Hedvig hatte tatsächlich den ganzen Haufen klein bekommen.
Trotzdem war Einar den ganzen Tag über unruhig. Sie war einfach so verschwunden. Wie war das möglich? Vielleicht hatte er sie auch nur übersehen? Vielleicht saß sie im Haus und ließ es sich gut gehen?
Das wäre möglich. Aber er hatte genau nachgeschaut! Es war eben nicht möglich. Sie war nicht auf der Insel. Sie könnte höchstens barfuß bis zur anderen Seite der Insel gelaufen sein. Aber warum sollte sie das tun? Das wäre genauso sinnlos, als wenn sie über das Meer zum Festland geschwommen wäre.

Hatte sie vielleicht wirklich versucht, bis zum Festland zu schwimmen? Vielleicht war sie ja wirklich von dem wortlosen Streit so mitgenommen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte. Aber was wollte sie denn auf dem Festland?

War er wirklich so schlimm, dass man es mit ihm nicht aushalten konnte?

Sie konnte nicht zum Festland geschwommen sein. Sie mochte vielleicht eine gute Schwimmerin sein, aber immerhin ging es hier um die Nordsee und um knapp 660 Meter. Wenn man nicht von der Strömung abgetrieben würde. Außerdem war sie schwanger!
Sie hätte die Anstrengungen nicht überlebt. Nur, wenn sie verdammt viel Glück hatte.

Vielleicht hat sie es wirklich versucht und war dabei gestorben. War er dann Schuld daran? Konnte man Einar Andersen, der sechs Jahre lang einsam auf einer Insel gelebt hatte und von den Menschen um sich herum immer nur enttäuscht worden ist, wirklich vorwerfen, dass er nicht mit einem jungen Mädchen umgehen konnte, dass plötzlich aufgekreuzt war, Gedächtnisverlust hatte und noch dazu schwanger war?
Vielleicht konnte man das wirklich.

Aber es würde niemand wissen, dass sie hier war. Ihre Leiche würde irgendwo angespült werden, man würde sie identifizieren und niemand würde je wissen, dass sie auf Tingelsædet war. Niemand konnte ihm die Schuld für ihren Tod geben.
Nur er selbst konnte das.

Der Gedanke ließ ihn nicht los. Es machte ihn zunehmend nervös. Er wollte nicht für den Tod eines Menschen verantwortlich sein, schon gar nicht für den Tod eines jungen, schwangeren Mädchens, von dem er nicht einmal wusste, wer sie war.
Wenn sie tot war. Nicht einmal das wusste er, aber schon der Gedanke daran machte ihn nervös. Vielleicht hatte sie eine Familie. Immerhin war sie ein hübsches Mädchen. Einar hätte sich gut vorstellen können, dass ihr Mann zu Hause saß und sich Sorgen um sie machte.
Wenn sie jetzt wirklich tot sein sollte...

Einar gab es auf, Reparaturen am Haus vornehmen zu wollen. Er konnte sich nicht konzentrieren. Vielleicht sollte er doch auf der anderen Seite der Insel nach ihr suchen. Vielleicht war sie dort. Dann konnte er wenigstens beruhigt weiterarbeiten.
Vielleicht würde er ihr auch auf dem Weg begegnen. Es war ihm zwar schleierhaft, warum man barfuß auf die andere Seite der Insel laufen sollte, aber Hedvig tat sowieso nie, was man von ihr erwartete.
Das hatte er in der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, gelernt.

Huset på skjæret - Das Haus auf der SchäreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt