~42~ Seen aus Tränen

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Lysanders Sicht

Es tat weh.

Zum wiederholten Male tupfte ich mir die Tränen von den Augen. Sie wollten nicht mehr aufhören. Inzwischen brannten meine Augen höllisch und waren so rot, dass sie dem Licht von roten Ampeln glichen. Nicht nur meine Augen taten mir weh. Meine Lippen, weil ich stundenlang auf ihnen herumkaute, um nicht wieder und wieder zu heulen, mein Kopf, weil das Weinen ihm zusetzte und mein Bauch, weil ich mich nicht mehr an die letzte richtige Mahlzeit erinnern konnte. Das einzige, was ich seit drei Tagen gegessen hatte, waren eklige Algenchips, doch ich bekam nichts anderes rein. Egal, was ich aß, mir wurde sofort schlecht davon. Nicht einmal meine Lieblingsschokolade schmeckte mehr.

Meine Mutter hatte mehrmals versucht, in mein Zimmer zu kommen und mich dazu zu bringen, etwas zu essen, doch ich hatte die Tür verschlossen und ignorierte sie. Ich wusste, dass ich ein schlechter Sohn war und sie dadurch nur noch mehr besorgte, doch ich wollte und konnte mit niemandem reden. Meine Stimme war vom Heulen inzwischen heiser.

Obwohl draußen ein heißer, sonniger Sommertag war, hatte ich mich in mehrere Decken eingewickelt und die Vorhänge zugezogen. Ich wollte eine Welt erschaffen, in der nichts und niemand mehr existierte. Niemand der mir wehtun konnte. Doch gleichzeitig wollte ich nicht alleine sein und versuchte mir vorzustellen, die Decken wären ein liebevoller Mensch, der mich umarmte. Vor einigen Tagen wäre Tarek noch dieser liebevolle Mensch gewesen, aber nun war er zu einem meiner größten Alpträume mutiert.

Wieso war alles bloß so schiefgelaufen? Zum ersten Mal, hatte ich mich bei einer anderen Person als meiner Mom beschützt und geliebt gefühlt. Geliebt... Hatte Tarek mich überhaupt geliebt? Schon bei dieser Vorstellung hätte ich mich für meine Naivität auslachen können, würde ich mich gerade nicht so depressiv fühlen. Er war wie jede andere Schwuchtel nur auf meinen Körper ausgewesen. Doch das war nicht der traurigste Part dieser Geschichte. Das, was mir am meisten zusetzt, sind die Gefühle, die er geschafft hatte in dieser einen Nacht in mir zu entfachen. Noch nie in meinem Leben hatte sich etwas so gut angefühlt. Und gleichzeitig so falsch.

Schon wieder spürte ich Tränen über meine Wangen laufen.
Es hat mir gefallen. Ich war zu dem geworden, was ich niemals werden wollte. Ich ekelte mich selbst an! Wie hatte das bloß passieren können? Lag es in den Genen? War mein Schicksal als Schwuchtel schon seit meiner Geburt festgelegt gewesen? Dabei wollte ich niemals so werden wie er.

Ich fühlte mich, als hätte ich die Kontrolle über meinen Körper verloren. Würde ich in Zukunft dauergeil werden und unschuldige kleine Jungs vergewaltigen? Ich wollte kein Monster werden!

Was sollte ich bloß machen? Meine Gedanken drohten mich zu zerstören, wenn ich nicht bald herausfand, was richtig und was falsch war.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Genervt rollte ich mich mit dem Kopf in meine Decke ein und wollte mich vor der Außenwelt verstecken. Ich hatte meiner Mom doch gesagt, sie sollte mich in Ruhe lassen. Was wollte sie jetzt schon wieder?
Es klopfte erneut, was mich stutzig machte. Normalerweise kam meine Mom einfach rein, wenn ich nicht antwortete.

,, Was ist?",rief ich mit einer unnatürlich kratzigen Stimme. Zu lange hatte ich nicht mehr geredet und einfach dagelegen und geheult. Hoffentlich würde ich nicht das Sprechen verlernen, wenn es so weiter ginge. Die Tür ging auf und ich hörte Schritte.
,, Hey, was ist mit dir los? Du hast seit mehreren Tagen nicht auf meine Nachrichten geantwortet! " Ich zuckte beim klang seiner Stimme zusammen und verscharrte mich noch mehr in der Decke. Meine Mom wusste ganz genau, dass ich niemanden sehen wollte. Kyle war da keine Ausnahme. Ich hasste es, wenn andere mich heulend, gar verzweifelt und am Boden zerstört sahen.
,, Ich hatte keine Lust", murmelte ich krächzend und räusperte mich,um halbwegs normal zu klingen.
,, Was? Wieso nicht? Was ist passiert?" Wie auf Knopfdruck war er total alarmiert und besorgt. Dabei sollte er sich keine Sorgen um mich machen. Ich hatte es schon einmal überlebt, also werde ich es auch ein zweites Mal verkraften. Oder eher gesagt, versuchen, es aus meinen Erinnerungen zu verbannen, denn verkraftet hatte ich es nie.

Broken Heart - Syndrom→boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt