"Hallo", sage ich und lächle ihnen allen zurück. "Tut mir Leid, dass ich einfach reingeplatzt bin, ich - "
"Das ist nicht schlimm, Schatz", sagt die alte Frau. "Es ist schön endlich mal einen von Harry's Freunden kennenzulernen." Sie richtet sich an Harry: "Wie konntest du uns so ein hübsches Mädchen vorenthalten?"
Harry lacht leise. "Ich entschuldige mich zutiefst, aber anscheinend hat Raven das Vorstellen schon selbst in die Hand genommen."
Er scheint nicht wütend darüber zu sein, dass ich einfach hier her gekommen bin und das erleichtert mich enorm. Ich frage mich dennoch, ob Cate und die andren wissen, dass er Leuten in der Kirche vorliest. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie es nicht wissen.
Ich schaue beschämt auf meine Finger, als ich Harry's Blick auf mir spüre.
"Ließ weiter, Hazza", sagt das kleine Mädchen, das zwischen uns sitzt und rüttelt an seinem Arm.
Hazza? Der Name ist ja extrem süß.
"Okay, wo war ich?" Er streicht konzentriert mit dem Finger über die Zeilen. Man kann erkennen, dass alles in diesem Buch selbst geschrieben ist. Harry scheint diese Geschichte tatsächlich selbst geschrieben zu haben.
Harry liest vor, wie der kleine Junge mit seinem Schutzengel die Prinzessin vor dem Drachen rettet und alle hören weiter gespannt zu - mir eingeschlossen. Ich könnte ihm den ganzen Tag zuhören und beobachten, wie seine Lippen sich beim Reden bewegen.
Nach kurzer Zeit spüre ich, wie das kleine Mädchen neben mir sich an mich lehnt und die Augen schließt. Sie scheint wirklich keine Furcht vor Fremden zu haben. Ich sehe Harry aus dem Augenwinkel lächeln, als sie sich an mich lehnt.
"So, das war's", verkündet Harry und schließt das Buch. "Wer hat Ideen für das nächste Mal?"
"Das nächste Mal soll der kleine Junge am Meer sein", sagt ein Junge, ungefähr 16 Jahre.
"Und es soll um einen Vulkan gehen!", ruft eine Frau.
"Und dieses Mal ist der Schutzengel ein Mädchen", sagt das kleine Mädchen neben mir und richtet sich wieder auf.
"Okay. Mal sehen, was ich damit so anfangen kann." Harry steht auf.
"In zehn Minuten ist Abfahrt", ruft ein Mann in Sanitäteruniform. Er scheint der Fahrer des Busses draußen zu sein. "Heute dürfen wir nicht zum Mittagessen zu spät kommen, sonst sperren uns die Cafeteriafrauen noch aus."
Die Gruppe - einschließlich Harry - fängt an zu lachen und es hallt durch die ganze Kirche.
"Dann sollen sie sich mal mehr Mühe beim Kochen geben", beschwert sich ein Mann und steht auf.
"Wenn es heute wieder diesen ekligen Nudelauflauf gibt, schmeiß ich es ihnen vor die Füße", fügt eine Frau noch hinzu und die andren stehen ebenfalls vereinzelt auf.
Harry steht auch auf und geht zu einer Frau, die immer noch am Boden sitzt. Sie hat kaum einen Ausdruck im Gesicht und bewegt sich kein Stück. Mir fallen die Augenringe auf und wie sie ebenfalls total abgemagert ist. Ich würde sie auf ungefähr Anfang fünfzig schätzen. Ihre fast komplett grauen Haare hängen ihr nur noch strohig vom Kopf.
Ich beobachte, wie Harry sie im Brautstyle hochhebt und sie in einen Rollstuhl trägt, der neben den Sitzbänken steht, während er ihr etwas leise zusagt.
"Das ist Elizabeth", sagt das kleine Mädchen neben mir. Wir sitzen immer noch beide auf dem Boden. "Sie wird bald in den Himmel fliegen."
Ich schnappe erschrocken nach Luft und sehe sie an. "Was?"
Das Mädchen sieht jetzt zu Harry und Elizabeth. "Ja, sie ist sehr krank. Harry sagt zwar immer, dass sie nicht sterben wird, aber ich weiß, dass er das nur sagt, um mich nicht traurig zu machen."
Mir klappt die Kinnlade nach unten. Dieses kleine Mädchen redet wie eine Erwachsene. Mir fehlen die Worte. Sie meint, dass Elizabeth krank ist und sterben wird. Bedeutet das, dass sie auch krank ist? Sie ist ebenfalls sehr dünn.
"Ich bin Tammy." Ihr Lächeln ist bildhübsch und voller Wärme. Sie steht auf.
"Schöner Name." Ich stehe ebenfalls auf. "Ich bin Raven."
Tammy bückt sich, hebt ihr Kissen auf und klemmt es sich unter ihren Arm. "Ist das dein Spitzname?"
"Ja."
"Ich mag den Namen."
"Wie ich sehe, hast du Tammy schon kennengelernt", sagt Harry der hinter mir auftaucht und hebt Tammy auf seine Hüfte. "Du musst aufpassen. Sie kann ein kleiner Teufel sein."
"Ich bin kein Teufel!", kichert Tammy und wuschelt Harry durch die Haare.
Schmunzelnd beobachte ich die Szene vor mir. Die beiden scheinen sich echt gut zu verstehen. Es ist schön zuzusehen, wie Harry mit ihr umgeht.
"Kannst du Raven das nächste Mal mitbringen?" Sie legt ihre Arme um seinen Hals.
Harry runzelt die Stirn und sieht mich an. "Wow, du scheinst hier echt eine Freundin gefunden zu haben."
Ich zucke mit den Schultern und sehe Tammy an. "Ich würde gerne das nächste Mal wieder kommen."
"Ja!", freut sich Tammy.
"Tamara, wir müssen los!", ruft der Mann in der Sanitäteruniform vom Eingang aus.
"Ich will nicht wieder zurück", murmelt sie traurig und kuschelt sich in Harry's Brust. "Ich will bei euch bleiben."
Harry's Miene verändert sich und er streichelt ihr über den Kopf. "Das packst du, Süße. Dafür benenne ich das Mädchen in meiner nächsten Geschichte auch nach dir. Aber versprich mir, dass du bis dahin nicht traurig bist."
Tammy nickt traurig und lächelt leicht.
"Also los, du weißt ja, wie ungeduldig die Cafeteriafrauen sind." Erlächelt und stupst ihre Nase an.
"Okay", lächelt Tammy und sie drückt Harry einmal fest.
Er lässt sie runter und sieht schmunzelnd zu ihr herab.
"Tschüss, Raven", sagt Tammy und drückt sich an mich. Sie ist so klein, dass sie ihre dünnen Arme gerade mal um meine Hüfte gehen.
Ich sehe Harry überrascht an und sehe dann wieder zu Tammy. "Mach's gut, Tammy. Wir sehen uns beim nächsten Mal."
Sie nickt grinsend und rennt zur Tür, wo der Mann in der Uniform auf sie wartet. Sie winkt uns noch von Weitem zu und der Mann verabschiedet sich von uns.
Ich brauche einen Moment, um die Szene, die sich gerade mir geboten hat, zu verarbeiten. Es ist gerade so viel passiert, dass so viele Dinge in mir ausgelöst hat.
All diese Leute scheinen krank zu sein - einschließlich Tammy. Dann war da Elizabeth, die sich nicht mal mehr bewegen konnte. Welche Krankheit hat sie, dass sie so unzurechnungsfähig ist?
Und was mich am meisten schockiert ist, wie Tammy sich eben verhalten hat, als sie gehen musste. Sie schien wirklich nicht gehen zu wollen. Ich habe unheimlich Mitleid mit all diesen Leuten.
"Jetzt weißt du, warum ich nicht in den Kursen war", unterbricht Harry meine Gedanken und fängt an die Kissen einzusammeln, die am Boden liegen.
Ich erwache aus meiner Starre und helfe Harry die Kissen einzusammeln.
Ich hoffe, dass das alles nicht zu dramatisch ist :D
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Hearts Collide
Fanfiction"Ihr Herz war ein geheimer Garten und die Mauern waren ziemlich hoch." - William Goldmann Dann traf sie diesen Schriftsteller auf dem College. Er war gutaussehend, charmant, hatte ein nettes Lächeln und nahm die Welt wie sie war. Sie wusste nicht da...