Kapitel 66 - Leg dich hin

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"Harry", sage ich leise, als er mich fest an sich drückt. "Was ist los?"

Meine größte Angst ist, dass er mir jetzt sagen wird, das Krankenhaus hat ihn angerufen und Tammy für tot erklärt.

Er lässt mich los und ich schließe die Tür hinter mir.

"Harry, rede doch", flehe ich, als er auf die Couch in seinem Wohnzimmer zutrottet.

Harry lässt sich seufzend auf die Couch fallen und stemmt seinen Kopf in die Hände. "Ich denke, ich habe einfach jemanden hier gebraucht."

Stirnrunzelnd setze ich mich neben ihn. "Wieso? Was ist passiert?"

Harry sieht auf und fährt sich durch die Haare. "Was passiert ist? Raven, sieh dich doch um. Alles passiert momentan."

Ich sehe ihn verwirrt an.

"Ich habe so lange Zeit Angst gehabt vor diesen Tagen. Ich dachte, ich hätte noch so viel Zeit, weißt du? Aber es geht auf einmal alles so schnell... Und das Schlimmste ist, ich weiß nicht, wie ich verdammt nochmal damit umgehen soll."

Jetzt wird mir klar, wovon er redet. Er redet von Tammy... Dass sie bald sterben wird und er hilflosen zusehen muss. Sofort wächst ein riesiger Kloß in meinem Hals. Harry ist ständig so zuverlässig und ruhig mit der ganzen Sache umgegangen und jetzt sehe ich ihn, wie er einen Moment hat, in dem er Schwäche zeigt. 

Um ihm das Gefühl zu geben, dass ich da bin und ihm zuhöre, lege ich meine Hand auf seinen Arm. Ich weiß, dass ich jetzt besser nicht reden sollte, sonst fließen wieder die Tränen. Ich bin so eine verflixte Heulsuße. 

"Ich weiß einfach nicht was ich tun soll, Raven. All diese Leute die ich sehe, jede Woche,... sie sterben. Woche um Woche sterben sie alle und jetzt, jetzt stirbt sie. Meine größte beschissene Angst erfüllt sich in den nächsten Wochen und ich bin hilflos. Tammy fragt mich so viele Dinge über die Welt, warum das Meer so weit ist, warum der Himmel blau... Und ich wünschte, ich müsste es ihr nicht erzählen, denn sie soll all diese Dinge selbst herausfinden. Wenn sie alt ist. Aber das wird sie nicht!" Harry steht aufgebracht auf und läuft von links nach rechts. Er wischt sich durch's Gesicht und erzählt weiter. "Sie wird nie selbst herausfinden, wie weit das verdammte Meer ist und sie wird nie erlesen können, wieso der Himmel blau ist! Und ich, ich halte sie in meinen Armen und sehe ihr beim Verbluten zu! O Gott, Raven, ich kann das nicht. Ich kann ihr nicht beim Sterben zusehen. Nicht schon wieder...."

Schon wieder?

Harry hält sich die Hand vor den Mund und stützt sich am Kamin ab. Er scheint einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.

Es wundert mich nicht, früher oder später wäre es zu diesem Punkt gekommen.

"Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich weiß nicht was ich tun kann, um es zu ändern. Nichts. Nichts kann ich tun. Fuck, nichts kann ich tun", sagt er leise.

Ihn so zu sehen, ihn so zu sehen, wie er vor lauter Schmerz keucht und wütend umher redet, schmerzt mir. Jetzt weiß ich, wie sich August's Frau gefühlt haben muss, als seine Schwester gestorben ist, er ausgeflippt ist und tagelang geweint hat. 

Harry kann nichts tun, um Tammy zu retten und ich kann nichts tun, um Harry zu retten. Wir sind gezwungen zuzusehen und zu hoffen, dass alles gut wird. Was anderes bleibt uns nicht übrig.

Ich stehe auf und gehe auf Harry zu. 

Um ehrlich zu sein bewundere ich es, dass er nicht in Tränen ausbricht. Wenn ich so ausflippen würde wie er, hätte ich schon längst ein Meer aus Tränen hinterlassen.

Ich nehme Harry's Hand und ziehe ihn sanft in Richtung der Treppen.

Harry sieht mich überrascht und verwirrt an, lässt es aber zu.

Ich ziehe ihn die Treppen hoch in sein Schlafzimmer. Ich bin froh, dass ich das Licht nicht anmachen muss, denn der Mond beleuchtet das Zimmer durch die großen Fenster noch genug. Schweigend ziehe ich ihn auf die Bettseite, bei der die Decke umgeklappt ist und setze ihn auf das Bett.

Harry starrt mich eindringlich an und verfolgt jeden meiner Bewegungen.

"Leg dich hin", sage ich leise und sehe ihn betrübt an.

Er gehorcht mir und legt sich unter die Decke.

Ich gehe um das Bett herum und will gerade die Tür schließen.

"Wo gehst du hin?", fragt Harry von Trauer erfüllt.

"Ich mache nur die Tür zu." Ich gehe auf die andere Bettseite und krabble zu ihm unter die Decke.

Harry dreht sich zu mir und drückt mich fest an sich.

Ich weiß nicht was das gerade für ein Gefühl ist, aber es fühlt sich stark und befreiend an. Wenn er mich so an mich drückt, fühle ich mich nicht mal wie ich selbst. Die Raven vor dem College hätte sich nicht interessiert, ob jemand ausflippt und hätte sich erst recht nicht mit jemandem unter eine Decke gelegt. Ich bin nicht ich selbst, das ist die einzige Erklärung dafür, warum meine Arme um ihn geschlingt sind, um ihn zu trösten, während er bricht.

"Danke", flüstert Harry nach einer Weile und lässt mich leicht los.

Ich presse mich enger an ihn und lege meinen Kopf auf seine Brust. Es ist beruhigend sein Herz schlagen zu hören. "Harry, wenn... du über irgendetwas reden möchtest, dann kannst du das einfach tun. Du musst das nicht alles in dich reinfressen. Das hast du mir doch am Freitag erst zu mir gesagt, als ich wegen meiner Mutter so traurig war."

Harry atmet tief ein und streichelt mit seiner Hand über meinen Kopf. "Ich weiß, Raven."

"Dann tu es jetzt."

"Habe ich nicht gerade schon eine ganze Rede gehalten?", lacht er leise. Da ist er wieder, der lockere und lustige Harry.

"Ja, aber lass uns sachlich über alles reden. Zum Beispiel - hm - wieso hatte Tammy diese Narbe an ihrer Schläfe? Die hab ich beim letzten Mal noch nicht gesehen." O Gott, kann ich bitte noch uneinfühlsamer sein?

Harry atmet tief ein. "Ich kann es dir nicht genau sagen, weil ich es selbst nicht richtig weiß, aber diese Narbe hatte sie auch, als sie das erste Mal auf der Intensivstation lag. Das sind irgendwelche Tests, die sie mit ihr machen und dafür müssen sie ihr halt... Den Kopf aufschneiden."

"Oh...", ich bereue es, das gefragt zu haben. "Und was hat es mit der Geschichte auf sich, dass die Schwestern sie bemalen würden, wenn sie frech ist? Das ist ja total unprofessionell."

Harrys Brust vibriert und er lacht leise. "Das waren nicht die Schwestern, das war ich."

Ich sehe zu ihm auf. "Was?", frage ich unglaubwürdig.

"Tammy war an dem Tag total aufgekratzt und hat ständig die Schwestern angezickt und da dachte ich, dass ihr eine kleine Bemalung mal gut tun würde. Ich hab die Schnurrhaare in ihr Gesicht gemalt, als sie geschlafen hat und hab ihr dann erzählt, dass das davon kommt, weil sie so frech war. Und seitdem ist sie immer lieb."

Ich schüttle den Kopf. "Das ist unglaublich. Weiß das auf Dokto - ehm, Robert?"

"Ja, er hat mir geholfen."

Ich lache leise und vergrabe mein Gesicht in seiner Brust. "Du hast echt überall Freunde."

Harry gähnt und hält sich die Hand vor den Mund. "Offensichtlich. Aber jetzt bin ich todmüde."

Ich schmunzle und ziehe die Decke höher. "Dann schlafen wir jetzt."

Ich höre Harry lächeln und er legt seinen Arm enger um mich. 

Es fühlt sich an, als würden wir perfekt ineinander passen. Wie zwei Puzzleteile, die sich gefunden haben.

"Gute Nacht, Raven", sagt er leise und küsst mich auf meinen Haaransatz.

"Gute Nacht, Harry."

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