Kapitel 60 - Elfen?

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Wir folgen Doktor McQueen in die Cafeteria und setzen uns an einen Tisch. Harry sitzt neben mir und der Doktor auf dem Platz gegenüber von ihm.

Doktor McQueen legt das Klemmbrett auf den Tisch und seufzt. "Ravely, ich nehme an, du bist über den derzeitigen Zustand von Tamara aufgeklärt?"

Ich nicke und presse meine Lippen aufeinander. Ich hoffe einfach, dass er uns jetzt sagen wird, dass Tammy wieder gesund wird und noch mindestens hundert Jahre leben wird.

"Okay, das macht alles einfacher. Harry, wahrscheinlich muss ich dir nicht nochmal sagen, dass sich ihre Werte Tag um Tag verschlechtern." Er sieht Harry mit einem bedauerlichem Blick an.

Harry nickt auch nur und ich meine, ihn schlucken zu hören. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Ihn scheint das wirklich unruhig zu machen.

"Ich habe letzte Nacht sofort neue Tabletten für sie bestellen lassen mit einer durchaus höheren Dosis gegen ihre Schmerzen. Leider müssen wir uns bis frühestens übermorgen gedulden, bis diese hier im Hospital ankommen, denn Tabletten mit dieser Stärke sind extrem schwer zu bekommen. Vor allem für ein Kind in ihrem Alter."

Ich atme schwer und auch Harry scheint die Luft anzuhalten. Ich sehe kurz zu Harry und er ist ganz blass geworden. Er leidet gerade. 

Da ich das Gefühl habe, dass er kein Wort rausbekommt, frage ich einfach die Frage, die uns beiden schon die ganze Zeit auf der Zunge liegt. "Was ist letzte Nacht passiert?"

Doktor McQueen sieht jetzt zu mir und sein Blick strahlt so viel Klägliches aus, dass ich jetzt schon weiß, dass die Antwort uns nicht gefallen wird. "Tamara hatte letzte Nacht einen sogenannten Blastenschub", erklärt er und seufzt. "Das bedeutet, dass sie jetzt im letzten Stadium der Krankheit ist. Sie hat fast zwei Liter Blut verloren. Wenn wir nicht so schnell gehandelt und Blutreserven besorgt hätten wäre sie... Sie hat nicht mehr lange Zeit."

Harry atmet aus und greift unter dem Tisch nach meiner Hand, als bräuchte er Halt.

Ich drücke sie, um ihm das Gefühl zu geben, dass ich da bin.

"Wie lange?", krächzt Harry und hält schmerzhaft die Augen zu.

Doktor McQueen schweigt. 

Harry sieht fast wütend auf und drückt meine Hand fester. "Wie lange, Robert?"

"Sie wird Juli nicht mehr erleben", sagt McQueen leise. 

Juli... Das ist in nicht mal mehr drei Wochen. In drei Wochen wird sie das Licht der Welt nicht mehr erblicken. Das schöne kleine Mädchen mit den blauen Augen. Ich schlucke den Kloß runter, der sich unbemerkt in meinem Hals gebildet hat und muss mit den Tränen kämpfen.

Harry schließt jetzt wieder die Augen und atmet tief ein. Man merkt ihm an, dass er sich beherrschen muss keine Träne fließen zu lassen. Obwohl ich es ihm nicht verübeln würde, auch wenn er Harry ist. Er hätte jedes Recht zu weinen.

"Es tut mir Leid", flüstert der Doktor.

Harry nickt und steht entschlossen auf. Er reißt mich mit hoch, da er immer noch meine Hand hält. "Also los geht's." 

Doktor McQueen und ich sehen ihn fragend an. 

Harry lächelt jetzt wieder, auch, wenn es seine Augen nicht erreicht. "Wir müssen ein kleines Mädchen glücklich machen."

McQueen steht ebenfalls auf."Wie immer bin ich froh, dass Tamara dich hat und keinen nutzlosen Vater", sagt er und klopft ihm väterlich auf die Schulter. "Du packst das, mein Junge."

"Das denke ich auch", sage ich und schaue zu Harry hinauf. Und das nicht nur körperlich.

Harry sieht mich an und drückt meine Hand.

Als McQueen Harrys Hand schüttelt ist er gezwungen meine loszulassen und sofort fühle ich mich nackt und hilflos.

Ich schüttle dem Doktor ebenfalls die Hand. "Danke, Mister McQueen."

"Nenn mich doch Robert. Über das Mister sind wir schon seit dem Impfpass hinaus", sagt er amüsiert.

Harry, Tammy und ich sitzen auf einer Bank im National Park und essen jeder genüsslich unser Eis. Wir waren gezwungen Tammy mit einem Rollstuhl mitzunehmen, aber Hauptsache wir konnten sie überhaupt mitnehmen. Sie hat sich aber trotzdem aus Protest geweigert auf diesem Ding zu sitzen, deshalb hat Harry sie den ganzen Weg auf seinen Schultern getragen, während wir durch den Park gelaufen sind und ich habe einen leeren Rollstuhl vor mir rumgefahren. Für uns ist es erstmal wichtig, dass sie noch die schöne Sonne sehen und so viel Eis essen kann, wie sie möchte. Komisch, wie ich schon von uns spreche, wenn ich von Harry und mir spreche. Aber es ist tatsächlich so. Die Sache mit Tammy schweißt uns noch viel mehr zusammen und die Tatsache, dass wir uns so viel offenbaren, was sonst niemand weiß, verbindet uns noch mehr.

Ich schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken, um der Sonne auch genügend Platz zu geben mir ihre Sonnenstrahlen entgegenzusprühen. Genau so hatte ich mir das vorgestellt. Harry, Tammy und ich.

"Hazza, wieso hast du eigentlich so viele Locken?", fragt Tammy und ich öffne meine Augen.

Tammy sitzt auf Harrys Schoß und spielt mit seinem Haar, während er an seinem Eis leckt und ihren Eisbecher in der anderen Hand hält.

"Genau, Hazza", grinse ich unschuldig, "Wieso eigentlich?"

Harry sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an und ich sehe ihm an, wie er jetzt schon weiß, dass er diesen Namen demnächst öfters von mir hören kann. "Tja", seufzt Harry und leckt sich ein Eisrest von seinem Mundwinkel.

Ich kann nicht behaupten, dass das gerade nicht unheimlich sexy aussah.

"Ihr wollt wirklich die Wahrheit wissen?", fragt er ernst.

"Ja!", sagt Tammy aufgeregt und lässt eine Locke von seinem Haar ploppen.

"Okay, passt auf. Eigentlich ist das ganz simpel, aber ihr dürft es niemandem verraten, sonst sind sie nämlich nicht mehr lockig."

Tammy hört ihm interessiert zu, während ich nur die Augen verdrehen kann. Jetzt kommt's.

"Jede Nacht, wenn ich schlafe, kommen vierundzwanzig kleine Haarelfen in mein Zimmer und verteilen so viel Elfenstaub auf meinen Haaren, damit sie so engelsgleich lockig sind wie gerade und - "

"Elfen?", quietscht Tammy laut und hält sich die Hände vor Schreck vor den Mund.

Harry nickt. "Ja, Elfen! Ich habe mal einen Pakt mit dem Meister der Elfen gemacht, dass wenn ich auf einen seiner Engel aufpasse, er jede Nacht diese kleinen Elfen in mein Zimmer schickt, damit meine Haare lockig werden."

Ich muss schmunzeln. Das ist unheimlich süß.

"Echt?" Tammy rutscht fassungslos auf seinem Schoß umher. "Kann ich den Engel mal sehen?"

"Klar", lächelt Harry. "Er sitzt gerade auf meinen Beinen und verursacht mir Krämpfe."

Tammy scheint erst kurz überlegen, grinst aber wenig später breit. "Ich bin der Engel."

"Du bist der Engel." Harry stupst Tammy auf die Nase und verteilt Eis darauf, weil ihm etwas über die Hand geflossen ist.

"Ihhhh", quietscht sie und wischt sich die Nase ab. "Du sollst das Eis essen, doch nicht auf meinem Gesicht verteilen, Hazza."

"Zu Befehl", sagt Harry und leckt von dem Eis ab.

Ich beobachte ihn lächelnd und kann gerade nicht fassen, dass ich das Privileg habe mit ihm hier zu sitzen, die Sonne zu genießen und einem kleinen Mädchen Geschichten zu erzählen. Wenn ich könnte, würde ich meine Gefühle in Worte fassen aber das kann ich nicht. Es ist buchstäblich zu schön, um wahr zu sein und ich freue mich schon auf den Tag an dem ich die richtigen Worte finden kann. Und sie werden einfach sein.

Aber eine Sache weiß ich ganz genau: Ich habe mich verloren.

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