Kapitel 56 - Der fast lila Himmel

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Ich kann nicht genau bestimmen, wie lange wir auf diesem Gehweg standen und uns in den Armen lagen, aber ich weiß, dass dieser Moment mich dazu gebracht hat, kurz alles zu vergessen.

Ich entferne mich aus Harry's Armen und wische mir die Tränen von den Wangen. Ich habe das Gefühl, dass ich mindestens zehn Liter Tränenflüssigkeit verloren habe seit ich von Scar weggefahren bin. "T-Tut mir Leid", krächze ich und schniefe.

"Raven." Harry kommt mir wieder näher, nimmt mein Gesicht in seine Hände und betrachtet mich eindringlich. "Ich weiß zwar nicht, was passiert ist, aber hör auf dich zu entschuldigen. Wirklich, wenn du dich noch einmal dafür entschuldigst, dass du Gefühle zeigst, lasse ich dich einfach stehen." Er streicht mir mit seinem Daumen eine Träne von der Wange und lächelt dann leicht. O wie ich seine Grübchen vermisst habe in diesen schrecklichen vierundzwanzig Stunden.

Ich nicke.

Harry lässt von mir ab und wirft sich meine Tasche über die Schulter. "Lass uns gehen."

Ich schniefe nochmal und folge ihm. "Du würdest mich nicht einfach stehenlassen", sage ich leise und verziehe meinen Mund zu einem leichten Lächeln.

Harry lacht leicht. "Nein, würde ich nicht."

Wir kommen an seinem Auto an, er öffnet mir die Tür, schmeißt danach meine Tasche auf den Rücksitz und steigt zur Fahrerseite ein.

Er betrachtet mich skeptisch und steckt den Schlüssel ins Zündloch. "Willst du zum Campus oder zu den andren an den Strand?"

Ich sehe ihn an. "Warst du gerade noch beim Strand?"

"Ja." Er scheint meinen schuldbewussten Blick zu sehen und fügt noch hinzu: "Aber das ist kein Problem. Es war sowieso gerade nicht sonderlich spannend. Also was möchtest du?"

Ich zucke mit den Schultern. "Was meinst du, wäre jetzt das Beste für mich?"

"Definitiv der Strand. Die Luft des Meeres hat eine positive Auswirkung auf die Gefühle." Er grinst und startet den Motor.

"Wirklich?"

"Keine Ahnung, aber wäre doch cool, oder?"

Ich lache. Das erste Mal lache ich wieder. Nur wegen Harry.

Er fährt los und wir reden kein Wort während der Fahrt zum Strand, aber das ist gut. Momentan bin ich einfach nur froh, dass er bei mir ist. Ich bin froh, endlich wieder hier zu sein in London. Niemals hätte ich gedacht, dass ich sowas mal denken würde nach nur 11 Tagen in London. Es hat sich so viel geändert.

Nach zehn Minuten kommen wir am Strand an und ich sehe schon von Weitem Cate, Niall und die andren an einem Lagerfeuer am Meer sitzen. Es sieht unheimlich gemütlich aus und ich bin froh, dass ich hier her gefahren bin und nicht zum Campus, wo ich wieder nur allein in meinem Zimmer sitzen würde. 

"Zum Glück bin ich mit hier her gekommen", sage ich zu Harry, während wir durch den Sand waten. Wir haben unsere Schuhe vorher ausgezogen und so kann ich die kleinen Körner zwischen meinen Zehen spüren. Sie sind  ein wenig kühl, aber das stört mich nicht. Es fühlt sich unheimlich befreiend an.

"Zum Glück hörst du immer auf mich."

Ich lache und remple ihn spielerisch an. "Gar nicht."

Harry lacht und wir kommen bei den andren an. "Ich habe jemanden mitgebracht", verkündet er und wir setzen uns in den Kreis um das Feuer.

"O man, Rave, du siehst ja grausam aus", keucht Cate und kommt auf mich zugekrabbelt.

"Was ist passiert?", fragt Niall und betrachtet mich erschrocken.

Ich lächle leicht, um die Situation etwas zu lockern. Ich hatte total vergessen, dass ich noch aussehe wie ein Zombie. Vielleicht hätte ich vorher wirklich nochmal zum Campus fahren sollen. "Ich hatte einfach zwei schreckliche Tage. Können wir das dabei belassen?"

"Klar", sagt Niall und Louis nickt, betrachtet mich aber ebenfalls skeptisch.

Cate drückt meine Hand und lächelt. "Guck mal, das ist er." Sie zeigt hinter sich und da sehe ich Andy sitzen. Tatsächlich, das ist er. Andy, der Barkeeper.

Ich hebe meine Augenbrauen und schmunzle. "Ich kenne ihn."

"Echt? Woher?"

"Als ich mich mal verlaufen habe, bin ich in einen Pub gegangen und da hat er gearbeitet. Wir haben uns da kurz unterhalten."

"Cool. - Andy!", ruft sie über das Feuer hinweg und er sieht zu uns. "Du kennst doch Rave, oder?" Sie zeigt auf mich.

Andy sieht zu mir, scheint erst kurz zu überlegen, lächelt aber dann breit. "Klar", ruft er zurück und winkt mir zu.

"Also ich werde mich jetzt wieder zu ihm setzen, wenn es dir nichts ausmacht."

"Mach ruhig."

"Okay", grinst sie und streichelt mir einmal liebevoll über die Wange. Allein diese Geste sagt so viel über sie aus.

Harry sitzt immer noch neben mir und vergräbt seine Füße im Sand. Am liebsten würde ich mich nach diesem harten Tag an ihn lehnen, die Aussicht auf das Meer genießen und dem Knacken des Feuer lauschen. Wenn hier nicht so viele andre wären, würde ich es wahrscheinlich auch machen. Mittlerweile fühle ich mich ihm einfach schon so nahe.

"Und Rave", sagt Liam. "Was hast du Scar  eigentlich zum Geburtstag geschenkt?"

Bei dem Gedanken an Scar zucke ich kurz zusammen und es fühlt sich an, als würde jemand ein Messer zum zehnten Mal heute in mein Herz rammen. "Ich habe ihr eine Kette gekauft."

"Schmuck ist immer gut, huh?", lacht Liam und nimmt ein Schluck von seinem Bier.

"Ja", lache ich mit ihm. "Anscheinend." Das letzte Wort flüstere ich nur noch.

Harry rutscht ein wenig näher zu mir und sagt leise zu mir. "Willst du morgen mit mir zu Tammy?"

Sofort lächle ich wieder, bei dem Gedanken an Tammy. "Unglaublich gerne."

"Gott sei Dank", seufzt er und lehnt sich mit den Armen nach hinten ab, "Sie nervt wirklich unheimlich in letzter Zeit."

Ich grinse nur und spiele mit dem Sand. Von der anderen Seite des Feuers höre ich Cate kichern und ich sehe zu ihr und Andy, die beide gerade rumblödeln und sich verliebt anschmachten. Bei dem Anblick muss ich schmunzeln. Cate ist so liebevoll und Andy schien auch total nett zu sein, ich hoffe, dass die beiden zusammen kommen. Ich würde es ihr gönnen. "Ist das nicht schön?", sage ich ins Nichts, meine aber Harry, denn alle anderen reden miteinander.

Der fühlt sich auch sofort angesprochen. "Was? Das Meer? Das Feuer am Meer? Die Aussicht? Oder doch der fast lila Himmel?"

Ich verdrehe die Augen. "Das auch. Aber ich meinte eigentlich das hier." Ich nicke zu Cate und Andy. "Wie schnell sich die Menschen in anderen Menschen verlieren können."

Harry lehnt sich wieder vor und legt seine Unterarme auf seine angezogenen Knie. "Philosophierst du gerade, Raven?"

"Ich weiß nicht. Vermutlich."

"Okay, mach weiter." Harry rückt noch ein Stück näher zu mir, so, dass sich unsre Schenkel berühren.

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