Kapitel 10 -Meine Zukunft in Person

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Ich laufe durch London, um mich abzulenken. Durch meine Kopfhörer höre ich You Are Your Mother's Child von Upside Down Mountain und Erinnerungen an meine Kindheit strömen durch meinen Kopf. Haben mich andere Schüler dafür gehasst, dass ich so war wie... na, ja, wie ich heute immer noch bin? Hätten sie mich genau so ausgeschlossen, wenn ich mit jemandem Partnerarbeit machen wollte, wie es heute alle getan haben? Auf einmal fange ich an zu denken, dass selbst wenn ich nie wirklich gegen jemanden etwas hatte, vielleicht alle andren etwas gegen mich hatten. 

Passend zu meiner Stimmung beginnt es zu regnen. Ich halte mir meine Jacke über den Kopf und laufe in ein Café. Ich schüttle mir die Tropfen von den Schultern und sehe mich um. Anscheinend war die Idee, sich vor dem Regen in einem Café zu verstecken nicht ganz so unbeliebt, denn es ist randvoll.

Ich sehe mich nach einen freiem Sitzplatz um, und entdecke einen freien Platz an einem Tisch, wo eine Frau - ungefähr Ende vierzig - sitzt. Man sieht ihr sofort an, dass sie viel arbeitet. Sie trägt einen engen Stiftrock mit Blazer und ich würde wetten, dass ihre Schuhe nicht unter fünfhundert Euro gekostet haben. Ihr Make Up sitzt perfekt und ihre braunen Harre sind zu einem strengen Dutt nach hinten gekämmt. Sie hält sich ein Telefon an's Ohr, während sie ein wenig Milch in ihren Kaffee schüttet. 

Ich gehe auf sie zu und zeige fragend auf den Stuhl ihr gegenüber. 

Sie nickt nur und telefoniert weiter. "Nein, Hank, du verstehst das nicht. Dieses Meeting ist extrem wichtig und ich kann nicht bei diesem Wetter dort hin laufen." Sie scheint gestresst zu sein. 

Eine Bedienung nimmt meine Bestellung, einen Kaffee mit Milch. Ich betrachte die Frau mir gegenüber, möglichst unauffällig, ein wenig mehr. So von Nahem kann man erst ihre Falten und einige graue Haare in ihrem Haarschopf entdecken. Auch ihre Augen strahlen etwas Kaltes aus?

"Hank, bitte. Tu mir den Gefallen", sagt sie wieder ins Telefon. Ihr ist die Verzweiflung deutlich anzusehen. "Du bist meine letzte Chance hier weg zu kommen - Nein, Yasmin und Diana habe ich schon angerufen." Sie stützt ihre Stirn mit der Hand auf dem Tisch ab. 

Ich schütte ein wenig Milch in den Kaffee und versuche, ihr nicht das Gefühl zu geben, dass ich sie belauschen würde. 

Jetzt sieht sie mich an und dreht sich ein wenig von mir weg, als würde sie bemerken, dass ich ihr zuhöre. Sie flüstert in ihr Handy: "Du bist mein Bruder... ich hab doch sonst niemand anderen." 

Die Person am Telefon sagt noch etwas und dann legt sie schnaufend auf und schmeißt ihr Handy auf den Tisch. "Scheiße."Sie stöhnt und legt ihr Gesicht in ihre manikürten Hände.

Als ich ihr erneut kurz ins Gesicht schaue, sehe ich, dass ihre Augen gerötet sind. Weint sie? 

"Ist, ehm... ist alles in Ordnung bei Ihnen? Ich will nicht aufdringlich sein, aber..." Ich versuche möglich leise zu reden, damit die andren Kunden uns nicht hören.

"Dann sei es nicht." Sie sieht mich mit bebenden Nasenlöchern an. Wie nett.

Ich schnappe erschrocken nach Luft und wende meinen Blick wieder sofort auf meinen Kaffee. Sie hat wirklich etwas Dominantes an sich. 

Sie schnieft einmal und wischt sich mit ihrer Serviette die Tränen aus den Augen. "Tut mir Leid, es war nicht so gemeint."

Ich nicke und sehe sie mitleidig an. 

"Ich hab nur jetzt eigentlich ein sehr wichtiges Meeting und ich kann dort nicht mit nassen Klamotten und Haaren auftauchen."

Kurz wundere mich mich, wieso sie mir das erzählt, fange mich dann aber wieder. "Und sie  haben niemanden, der Sie hinfahren könnte?" Ich möchte ihr auf keinen Fall zu Nahe treten.

Sie atmet einmal tief ein. "Nein... Nein, habe ich nicht." 

Ich werde neugierig. "Wo arbeiten Sie denn, wenn ich fragen darf?"

"Ich bin CEO in einer Verlagsfirma." Sie rührt ihren Kaffee um.

"Wow, das ist beeindruckend." Ist es definitiv. Das erklärt ihr selbstbewusstes Auftreten. Bis na, ja, bis sie anfing zu weinen. 

Sie kurz auf und sieht mich mit immer noch geröteten Augen an. "Ich wünschte, ich wäre es nicht."

Sie wünschte, sie wäre es nicht? Wer wäre nicht gerne Chef in seiner eigenen Firma? 

"Reichtum und Karriere ist nichts, wenn man alles andere nicht hat." Sie trinkt von ihrem Kaffee.

"Wie meinen Sie das? Sie haben anscheinend viel für ihren Erfolg getan. Wieso sollten Sie das nicht mehr wollen? Sie haben Dinge erreicht, die kaum ein Mensch je schaffen wird. Ich wäre mega glücklich so eine Karriere zu erreichen, wie sie." Ich runzle verwirrt die Stirn.

"Kleine, du willst nicht so sein wie ich. Ich habe jede Menge Geld, ja, ich habe sogar eine beschissene Villa auf einem abgeschotteten Berg. Ich trage Klamotten mit den man zich von Autos kaufen könnte."

Wow, eine Villa auf einem abgeschotteten Berg. Das wollte ich schon immer. 

"Aber ich habe niemanden. Keinen Mann, keine Kinder. Ich habe nicht mal jemanden der mich zu diesem beschissenen Meeting fahren will!" Zum Ende hin wird sie immer lauter.

Manche Kunden drehen sich zu uns um. 

"Das eben war mein BRUDER und nicht mal der will mich abholen. Und normalerweise ist Familie doch das Wichtigste, nicht wahr? Tja, meine Familie hasst mich! Genau wie meine Kollegen und wenn ich Freunde hätte, würden die mich mit höchster Wahrscheinlichkeit auch hassen!" Ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen und ihr Griff um den Kaffebecher wird fester. 

Ich bekomme kein Wort raus. Ich starre sie nur mitleidig an. 

"Wenn du glücklich sein willst, dann hab Spaß, Kleines. Häng mit deinen Freunden so oft wie möglich ab, macht Unsinn und sammle Erfahrungen. Denn das tat ich nie und ich bereue es in jeder Sekunde meines Lebens." Sie steht auf und wirft sich ihre Arbeitstasche um die Schulter. "Tu alles, aber werd bloß nicht so wie ich." Sie lächelt am Ende noch leicht und verlässt dann das Café.

In meinem Kopf schwirren so viele Dinge umher. Und dann wird es mir klar.

Vor mir saß gerade meine Zukunft in Person. 

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