03 - Berlin

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Die folgenden Tage sind ein Wirbel aus Aktivitäten, die wie ein Film an mir vorbeirauschen. Die Kanzlei in Seoul. Die Filiale in Berlin. Die durch die Zeitverschiebung mühsame Kommunikation mit dem Bestattungsunternehmen. Eine nicht enden wollende Flut von schnell zu fällenden Entscheidungen überfordern mich völlig und rauben mir den Schlaf. Bald wird deutlich, dass ich zügig nach Berlin fliegen sollte, damit die ganze Angelegenheit nicht zu einer endlosen Qual wird. Also reiche ich Urlaub ein, buche einen Flug, reaktivieree meine länger nicht mehr genutzten Deutschkenntnisse und lasse mich von So-Ra zum Flughafen bringen.

Einchecken. Warten. Einsteigen. Warten. Eine unruhige Nacht voller Luftlöcher und Traurigkeit. Auschecken. Warten am Gepäckband. Zoll. Nach neunzehn Stunden treffe ich schließlich am Terminal auf den Mitarbeiter der deutschen Kanzlei, der mich zur Wohnung von Onkel Harry fährt. Ich zweifele wieder daran, ob es richtig war, nicht in ein Hotel sondern in seine Wohnung zu gehen. Ich bin so gerädert und überfordert von den letzten Tagen - aber nun ist es zu spät. Wenn es gar nicht geht, kann ich morgen immer noch in ein Hotel umziehen.
Ich stelle erleichtert fest, dass mein Deutsch doch noch ganz gut funktioniert. Der Angestellte bringt mich zur Wohnungstür, schließt mir auf, gibt mir noch eine Liste mit Terminen für den nächsten Tag und den Schlüssel zu dieser Wohnung und verabschiedet sich.

 Der Angestellte bringt mich zur Wohnungstür, schließt mir auf, gibt mir noch eine Liste mit Terminen für den nächsten Tag und den Schlüssel zu dieser Wohnung und verabschiedet sich

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Ich bin allein. Unschlüssig stehe ich vor der wunderschönen, mit Jugendstilmotiven verglasten Eingangstür und kann mich nicht rühren. Einmal war ich ja hier. Da war Onkel Harry vorher krank gewesen und konnte nicht zu meiner Bachelor-Feier fliegen. Aber er war noch ganz rüstig und guter Dinge. Jetzt ist er fort, und ich fühle mich auf einmal wie eine Einbrecherin. Damit ich nicht im Treppenhaus übernachten muss, gebe ich mir schließlich einen Ruck, trete ein und finde mich in einem breiten und sehr hohen Flur wieder. Sofort überfällt mich der vertraute Geruch, den ich noch von der Villa kenne. Ich komme grade mal so weit, dass ich die Wohnungstür hinter mir schließen kann. Dann verlässt mich schon wieder der Mut. Fast kann ich hören, wie Onkel Harry aus seiner Bibliothek ruft - wie damals.
"Willkommen zu Hause, Liebes. Kann ich dir etwas Gutes tun? Oder wollen wir gleich zusammen zu Abend essen?"

Aber die Stimme erklingt nicht. Sie ist für immer verstummt. Mir bleibt nur die Erinnerung an all diese aufmerksamen, fürsorglichen Momente. Am liebsten möchte ich sofort wieder rausrennen. Aber gleichzeitig weiß ich auf einmal ganz sicher, dass es richtig ist, hier zu sein und mich noch einmal wenigstens ein paar Tage lang dem Geist dieses wunderbaren Mannes auszusetzen. Also hänge ich meinen Mantel an die Garderobe, schlüpfe aus meinen Schuhen und beginne, die Wohnung zu erkunden.
In der Küche koche ich mir einen Kaffee und stelle fest, dass mir jemand den Kühlschrank gefüllt hat. In der Bibliothek empfängt mich ein vertrauter Anblick. Da liegt ein aufgeschlagenes Buch neben dem alten Ohrensessel. Ich trete näher und lese den deutschen Titel. Es ist ein Märchenbuch.
Vielleicht ist es ihm mit fortschreitender Demenz nicht mehr möglich gewesen, anspruchsvolle Literatur zu lesen, und die Märchen hat er noch aus seiner Kindheit erinnert. Oder meiner ...

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