06 - Ja, Nein, Doch

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"Eine Nacht drüber schlafen" hatte ich gesagt. Enthusiasmus und Tatendrang von gestern sind nicht völlig verflogen, aber doch ziemlicher Ernüchterung gewichen. Beim Frühstück lese ich noch einmal den Brief, den ich gestern Abend geschrieben habe, mache mir Gedanken, wo und wie ich jetzt eigentlich anfangen soll, und kristallisiere drei Ebenen heraus.

Die erste Aufgabe ist natürlich die Sanierung des Hauses. Drunter, drumrum, drüber - sprich Fundament, Außenwände, Isolation, Dach, dazu Wasser, Heizung, Elektrik - das ist alles unabhängig vom zukünftigen Zweck des Hauses. Sozusagen die Voraussetzung für alles andere.

Die zweite Aufgabe ist es herauszufinden, was das sein könnte, das "was mir am Herzen liegt". Welchen gesellschaftsspaltenden Missstand finde ich so empörend, dass ich mit meiner Kraft und Zeit, meinem Vermögen und meinem Herzen daran mitwirken will, dass an dieser Stelle unsere Gesellschaft gerechter und toleranter wird?

Und die dritte Aufgabe ist schnell formuliert: ich kann nicht alles auf den Kopf stellen und Himmel und Hölle in Bewegung setzen für ein edles Hilfsprojekt - und dafür als erstes vier gestrandete Menschen höchst unedel auf die Straße setzen. Was auch immer ich plane und verwirkliche - es muss eine Zukunft bereithalten für Hobi Bauarbeiter, Jeongguk Poltergeist, Yoongi Löwengähnen und Jin Leicheimkeller.

Hier halte ich inne. Kopf und Bauch fangen bei diesem Punkt sofort an, sich zu zanken. So-Ras Stimme mischt kräftig mit, Onkel Harry schaut mich warm an, schwarzes Wasser schwappt durch die Auseinandersetzung und Berge von Antragsformularen mauern mich ein. Energisch schüttele ich den Kopf. Viele Köche verderben den Brei. Ich hocke mich auf meinen Minibalkon und atme ganz bewusst den Duft von Frühling und Gelassenheit ein.

Mein Gedankenwust klärt sich etwas. Ich lege eine Tabelle zu den drei Aufgaben mit Pro und Contra und möglichen Alternativen an. Ich suche mir nochmal den Grundriss vom gesamten Gelände raus.
Die alten Bäume überall sollen die Sanierung überleben. Sie geben dem Park Struktur und sind einfach schön.
Mein Blick fällt auf ein Rechteck links auf dem Gelände in der Nähe der Straße, das von hohen Hecken umgeben und inzwischen wahrscheinlich völlig überwuchert ist.

Und da macht es Klick.
Das alte Pförtnerhaus!
Onkel Harry hatte nur zwei feste Angestellte, ein tüchtiges Ehepaar. Sie war Haushälterin und Köchin, er war Gärtner, Pförtner, Chauffeur und Automechaniker. Die beiden hatten dort, auf halbem Weg zwischen Straße und Villa ihr eigenes Paradies und viele Freiheiten, wenn sie grade nicht gearbeitet haben. Das ehemals ganz hübsche Haus dürfte allerdings zusammengebrochen sein - bei dem Gewicht da drauf.
Sonst wäre mir das gestern doch ins Auge gefallen!

Angezogen mit robuster Kleidung, bewaffnet mit einem Zollstock, einer Heckenschere, alten Grundrissen, Notizpapier und meinem Fotoapparat in meinem Rucksack, dazu einem großen, leeren Korb mache ich mich eine halbe Stunde später auf den Weg. Ich fahre zum Italiener meines Vertrauens, wo ich vor der Abfahrt jede Menge Essen bestellt habe. Damit fülle ich den Korb bis zum Rand und starte zu meinem zweiten Besuch in meiner Vergangenheit. Jetzt wird es spannend.

Es geht schon gegen Mittag, ich habe unterwegs noch zwei Kästen mit verschiedenen Getränken gekauft und fahre nun den Berg zur Villa hinauf. Es ist Sonntag, und außer ein paar Ausflüglern, die hier zu einem Spaziergang im Wald hochfahren, ist nichts los auf der Straße. Die Baustelle auf dem Nachbargrundstück ruht.
Auch auf meinem Grundstück tut sich nichts. Ich bleibe wieder direkt an der Einfahrt stehen und mustere das Gelände. Da, wo die Pförtnerei war, erhebt sich eine grüne Hölle aus Bäumen und Rankenpflanzen. Darunter ist also nicht nichts, dazu ist der Berg zu hoch.
Ich versuche, mit dem Auto weiter die geschwungene Auffahrt rauf zu fahren. Aber schon nach zwanzig Metern muss ich den Wagen abstellen und doch zu Fuß weitergehen.

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