72 - Schritte wagen

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Anwalt, Gärtnerei, Friedhof. Leichter gesagt als getan. Heute ist Freitag, wir sind also seit sechs Tagen hier, nein, sieben. Und ich habe mal wieder die Zeit genutzt, innerlich wahre Marathonläufe zu absolvieren. Am Anfang hatte ich einen Haufen Flashbacks und ein Gebirge von Angst. Dann hat mich die Bildermappe überrascht und berührt. Seitdem haben wir in loser Folge Vergangenheit bewältigt, Berlin unsicher gemacht, wunderbare Bilder bestaunt und tiefe Einblicke in Harrys Seele bekommen. Und in meine auch.

Jetzt sind die Flashbacks weg, der Sturm ist abgezogen, ich fühle mich beweglicher und freier. Ich traue mich wieder, Entscheidungen zu fällen, bisher Undenkbares zu denken, Schritte vorwärts zu wagen - und dabei auszuhalten, dass es keine Garantie für ein Happy End gibt.

Was will ich dann also mit dem Anwalt besprechen? Eigentlich keine Ahnung. Aber er war ein langjähriger Freund von Harry. Er war glaube ich am Montag sehr erschrocken und verunsichert, dass ich einfach umgekippt bin, obwohl So-Ra damit so gelassen umgegangen ist - ich sollte ihn teilhaben lassen.

Während So-Ra für sich notiert, was sie heute noch als Mitbringsel kaufen möchte, rufe ich meinen Berliner Anwalt an. Er ist grade in einem Klientengespräch, ruft mich aber eine halbe Stunde später zurück. Wir plaudern ein bisschen, ich erzähle ihm, was ich in der Bildermappe alles für mich entdecken konnte, und frage ihn schließlich, welche Friedhofsgärtnerei beauftragt worden ist. Erst jetzt kapiere ich, dass in der großen Fläche der eingefassten Grabstelle nicht nur Harry liegt sondern unten drunter auch seine Eltern, meine Großeltern. Bei der Beerdigung im März war der Originalgrabstein ja vorübergehend beiseite gestellt worden, deshalb hatte ich das nicht gesehen und also nicht verstanden. Ein Familiengrab also.

Der Anwalt informiert mich dann auch, welche Firma schon seit Jahrzehnten mit der Grabpflege beauftragt ist. In meinem nächsten Telefonat kläre ich also alle Fragen rund um das Grab und verabrede mich mit dem Gärtner.

Wir packen uns ganz warm ein, spazieren Händchen haltend und relativ still durch Charlottenburg und betreten schließlich den Friedhof Luise II durch den Haupteingang, wo die Möglichkeit besteht, die genaue Lage der einzelnen Gräber zu erfahren. Das müssen wir heute aber gar nicht tun, denn ein Mitarbeiter der Gärtnerei erwartet uns und führt uns zum Familiengrab.

Ganz ruhig stehe ich da und lasse die winterlich mit Schnee bedeckte Grabstelle auf mich wirken. Große alte Laubbäume beschatten den Ort im Sommer. Jetzt lassen die kahlen Äste die trübe Sonne auf den stillen Ort scheinen. Das Grab ist noch ungeschmückt, keine Vasen, Sträuße, Kränze, Lichter unterbrechen das kalte Weiß. Drei Namen stehen auf dem rohen, rötlich melierten Stein. Drei Namen, drei Leben, von denen zwei abrupt an einem Baum endeten und eines in geistiger Dämmerung verwehte.

 Drei Namen, drei Leben, von denen zwei abrupt an einem Baum endeten und eines in geistiger Dämmerung verwehte

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Die Stille und Leere scheinen zu warten. Zu warten darauf, dass der Frühling kommt - im Land, in der Bepflanzung, in der Belebung durch Persönliches, in meinem Herzen.

Ich warte auch auf den Frühling. Es sind so viele Türen aufgegangen in mir, Türen zur Vergangenheit, Türen zu Harry, Türen zu wahrhaftigen Zielen und Träumen, Türen zu mir. Nach dem anfänglichen Schock vor neun Monaten ist so viel aufgebrochen, durchlitten, gereift und geheilt. So viel Klarheit, Wissen, Fühlen, Menschen, Orte und Entscheidungen sind geliebte Teile meines Lebens geworden.

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