28 - die Baustelle

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Es ist Anfang August, die Hitze brütet nach wie vor über Seoul, am Bukhansan geht alles seinen gewohnten Gang. Jeongguk macht seine ersten Gehversuche in der Welt der Berufstätigen. Er fühlt sich wohl dort, taut auf, stellt sich geschickt an und wird viel gelobt. So, wie Taehyung am Wochenende den Kontakt zu seiner Familie festigt, bekommt Guk mindestens einmal in der Woche Besuch von seinem Bruder. Manchmal fahren sie dann in die Stadt, gehen ins Kino oder hängen in Junghyuks Studentenwohnheim ab. Die 'Welt da draußen' verliert nach und nach ihre Schrecken für Guk, auch wenn er dabei immer noch sehr angespannt ist. Seine Chefs spiegeln mir, dass er - einmal im Betrieb angekommen - sehr schnell wieder entspannt und gut integriert ist. In der Berufsschule  fällt es ihm deutlich schwerer, weil die unübersichtliche Menge ihn schreckt.

Namjoon arbeitet und schläft und schläft und arbeitet. Er fügt sich gut in die Gemeinschaft ein, schenkt mir viel Aufmerksamkeit und lauter kleine Gesten der Zuneigung. Er hat aber kaum Kraft, sich darum zu kümmern, dass er seine permanente Überlastung in den Griff kriegen oder den Job wechseln kann. Jin ... kocht und schweigt.

Yoongi fährt Pizza und nimmt sich ansonsten viel Zeit, Jeongguk einfach zuzuhören, wenn der von der Arbeit nach Hause kommt. Hoseok und Tae sind wertvolle Hilfen am Bau. Hoseok fängt an, laut darüber nachzudenken, ob er überhaupt nach drei Jahren ohne geregeltes Training noch gut genug ist, wie er rausfinden könnte, ob dieses Tanz-Studium noch das ist, was er will, fährt in die Stadt und sucht die alten Plätze, wo sich Straßentänzer gerne aufhalten.

Taehyung lauscht immer besonders aufmerksam, wenn die Kunsthistorikerin Dr. Lee von Farben und Tapeten, Teppichen und Vorhängen, Stuck und Möbeln redet. Dann wird er zu meinem permanenten stummen Verfolger, der alles in sich aufsaugt wie ein trockener Schwamm.
Einmal schnappt er sich Papier und Bleistift und versucht zu zeichnen, während wir die Stuckelemente in den einzelnen Räumen endgültig festlegen. Irgendwann fängt er an, auf dem Schreibtisch im Containerbüro nach etwas zu suchen.
"Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?"
"Hätten Sie vielleicht ein Radiergummi für mich? Ich kriege das mit den Schatten nicht richtig hin."
Die Fachfrau wirft einen kurzen Blick auf die Zeichnung und zieht erstaunt die Augenbrauen hoch.
"Warten Sie noch mit den Schatten. Das ist gut! Sie haben ein sehr scharfes Auge für Details und Perspektiven."

Ich blicke nun auch auf sein Bild und sehe sofort, was sie meint. Er hat sich mit seiner Zeichnung orientiert an einem Musterstück für die Bibliothek. Im Blattwerk sind Bücher und Briefe, aber auch Spielfiguren und Würfel verstreut. Und diese Würfel hat er von ganz unterschiedlichen Seiten wiedergegeben, wie sie bei dem Muster eben vorkommen. Jeder Würfel sieht anders aus, aber kein einziger wirkt laienhaft verzerrt oder gar unförmig.
"Was haben Sie sich vorgestellt, aus welcher Richtung das Licht einfällt?"
"Naja ... ich hab versucht, das vorhandene Licht vom Fenster zu nehmen. Aber die Deckenbeleuchtung macht die Schatten so blass, dass ich das nicht gut erkennen kann."
"Dann machen wir die Deckenbeleu... Warten Sie. Nebenan steht auch ein Tisch. Da machen wir die Deckenlampe gar nicht erst an. Dann haben Sie einen sauberen Schatten nur vom Fenster."

Dr. Lee lässt Tae in den nächsten Container und gibt ihm noch ein Radiergummi.
"Welches Musterteil hatten Sie gewählt?"
"Das da."
"Schauen Sie gut, wie es hier im Verhältnis zum Fenster liegt, und wo Sie gesessen haben. Dann nehmen Sie das Stück einfach mit rüber."
Tae betrachtet konzentriert die Konstellation und wandert dann mit seinen Utensilien nach nebenan. Bald ist er vollkommen vertieft in die Schattenführung seiner Zeichnung.
Leise schließt die Kunsthistorikerin die Zwischentür.

"Kennen Sie den jungen Mann genauer, Frau Cho? Entweder hat er schon ausgiebigen Zeichenunterricht erhalten, oder er ist ein Naturtalent."
"Das weiß ich gar nicht. Er hat die Mittelschule abgeschlossen, eine Lehre als Maurer angefangen, musste aber abbrechen, weil er obdachlos wurde. Seit einiger Zeit arbeitet er als Hilfsarbeiter am Bau. Ob er daneben noch von einem Beruf geträumt hat, der ihm liegt ... wahrscheinlich ist das viel zu kurz gekommen."
"Das heißt dann wohl, dass er selbst noch nicht kapiert hat, wo sein größtes Interesse und Talent liegt. Denn wann immer ich hier in der Villa auftauche, wird er zu meinem oder Ihrem Schatten und hängt uns förmlich an den Lippen. Reden Sie doch mal mit ihm, was es ihm bedeutet, uns zuzuhören."

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