95 - der Tag danach

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Triggerwarnung! Ab heute erfahren wir nach und nach von Jimins Schicksal. Pass gut auf Dich auf!

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Ich wache davon auf, dass sich hinter mir die Matratze senkt. Kurz darauf hebt sich die warme Decke, und Namjoon kuschelt sich an mich. Er selbst ist allerdings überhaupt nicht kuschelig sondern im Gegenteil ziemlich kalt.
"Hei, ich bin nicht deine Heizung!"
Langsam schiebt sich eine kalte Hand meinen Arm entlang nach vorne. Ich versuche, meine warme Decke dazwischen zu wurschteln. Vergebens.
"Och, ich musste doch nur kurz wo hin. Willst du mich nicht vor dem Erfrierungstod retten, Schatz?"
Ich brumme unwillig.
"Im Moment versuche ich grade, meinen Erfrierungstod zu verhindern!"

Namjoon interessiert das offensichtlich überhaupt nicht. Er beugt sich über mich, so dass es jetzt von hinten ganz kalt zieht, und - knabbert mir am Ohrläppchen. Ich bin sofort völlig wehrlos, wie elektrifiziert. Gänsehaut wandert meinen Rücken runter, bunte Blitze zucken durch meinen Bauch. Jeder Widerstand schmilzt dahin wie Eis in der Sonne.
Ich brumme erwartungsvoll. Joon kichert.
"Das klingt schon ganz anders."
Ein Küsschen aufs Ohr. Langsam dreht er mich zu sich um. Ein Küsschen auf die Nasenspitze. Mir wird auf einmal sehr warm. Ein Kuss auf den Mund - für den wir eine Weile brauchen ...
Ach, könnte doch jeder Tag so beginnen.
"Wenns nach mir geht, kann das so bleiben."
"Wird es doch auch."
Fragend sehe ich ihn an.
Bin ich noch nicht wach - oder er?

Namjoon antwortet nicht. Stattdessen sucht er unter der Decke nach meiner linken Hand und zieht sie hervor. Er strahlt meine Hand an.
Allmählich wird es schräg.
Ich folge seinem Blick und entdecke etwas, das mich schlagartig glücklich macht.
Der Ring! Der Verlobungsring seiner Oma. Und meiner jetzt auch.
"Hast recht. Ich ziehe ja nicht alleine in die 'drei kleinen Häuschen'. Ich hab dann den wundervollsten Mann der Welt jeden Tag bei mir."
Ich betrachte meine Hand näher. Bei der Gelegenheit stelle ich fest, dass ich überhaupt etwas sehen kann, dass es also draußen - und darum auch hier drinnen - schon taghell ist. Ich denke laut.
"Der Ring ist besonders schön, weil er so schlicht ist. Ich finde, er steht mir. Er passt zu meiner Hand."
"Da hast du recht. Er passt zu dir. Er hat wohl auf dich gewartet."
"Und ich auf dich."

Ich drehe mich endgültig zu ihm hin und ziehe Joon zu mir runter. Meine Finger streichen durch seine Haare, während wir uns leidenschaftlich küssen. Dann liegen wir ganz still. Ich schließe die Augen und ertaste seine Haut mit meinen Fingern. Ein leises Zittern. Die feinen Haare auf seinem Arm. Das Muskelspiel, wenn er sich bewegt. Wie wundersam weich seine Haut innen an den Armen ist!
Ich brumme genüsslich.
Der Vormittag ist schon weit fortgeschritten, da stehen wir endlich auf - und verlagern unsere Zärtlichkeiten einfach unter die Dusche. Ich bestehe nur noch aus meinen Sinnen, so intensiv ist das alles. Wir lassen uns Zeit, frühstücken ausgedehnt, machen es uns gemütlich, verbummeln den Tag.
Was für eine Wohltat nach den anstrengenden letzten Wochen.

"Sollen wir heute überhaupt zur Villa fahren?"
"Ich glaube schon. Sehen, wie es Jin mit dem Abend geht. Wie es bei Hobi und So-Ra weitergeht. Wie Jeongguk und Jimin die Abende in den Gastfamilien verlebt haben. Ich vermute, da ist heute Gruppenkuscheln angesagt."
"Na, dann."
Ich brumme frustriert, denn eigentlich will ich heute nicht raus. Aber Namjoon hat leider den entscheidenden Knopf gedrückt - mein Verantwortungsgefühl für die Jungs. Um drei Uhr machen wir uns schließlich auf den Weg. Viel ist nicht los heute auf Seouls Straßen. Wir kommen zügig durch und treffen kurz vor Einbruck der Dämmerung an der Villa ein. Die Schatten der Bäume und Grundstücksmauern sind schon lang, die Stimmung ist für einen Moment fast magisch.

Aber dann bremse ich irritiert, denn auf der gegenüber liegenden Straßenseite steht stumm ein Mann und starrt den Hang hoch zum Portal. Er ist relativ klein, zu dünn angezogen und sieht ungepflegt aus. Zottelige Haare, unrasiert, das Gesicht, wahrscheinlich vom Alkohol, aufgedunsen und gerötet, eine deutliche Bierplautze, tief liegende Augen, die mir dennoch irgendwie bekannt vorkommen. Die Hände in die Taschen einer alten, schmutzigen Trainingsjacke gesteckt, die ursprüngliche Farbe der Hose lässt sich unter dem Dreck nicht erkennen, eine erloschene Zigarettenkippe hängt in seinem Mundwinkel und rundet das Bild ab.
Mit tonloser Stimme bricht Namjoon den Moment.
"Fahr weiter, Liebes. Nichts anmerken lassen. So lange der hier auf der Straße steht, muss er uns nicht interessieren. Es war damit zu rechnen, dass manche Betroffene hier plötzlich selbst vor der Tür stehen."
"Hast recht."

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