63 - Advent in Berlin

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Wir haben beschlossen, uns keinen Wecker zu stellen. Unser Zeitgefühl ist sowieso total über den Haufen, und in einer Woche gehts schon wieder retour. Nur der Termin beim Anwalt am Montag Mittag, da sollten wir pünktlich sein.

Wir wachen ziemlich früh von alleine auf. Es ist noch dunkel draußen, aber der Schnee im großen Innenhof reflektiert das Mondlicht und verzaubert diese kleine Welt. Es sieht sehr romantisch aus. In Decken gekuschelt, mit Kaffeetassen in der Hand sitzen wir im dunklen Wintergarten und warten auf den Tag.
"So, meine Liebe. Dann erzähl mir doch mal, wie typische deutsche Weihnachten funktionieren."
Ich muss lächeln.
Diese Frage ist so typisch!

"Weihnachten ist ganz viel. Das ist das christliche Fest der Freude über die Geburt des Erlösers. Es ist ein familiär geprägtes Fest, ein bisschen so wie bei uns Chuseok. Es ist inzwischen sehr kommerzialisiert, weil viele Menschen keinen Bezug mehr haben zur religiösen Bedeutung. Der Advent vorher ist ursprünglich eine Zeit der inneren Vorbereitung darauf, aber das weiß nahezu niemand mehr. Die vielen Bräuche und Symbole rund um die Geschichte haben sich aber gehalten. Lichter, Sterne und Kerzen. Adventskranz und -Kalender. Engel, Krippen, Tannengrün, Kekse backen, Lieder singen, Weihnachtsschmuck aus Stroh, Kugeln, Aufregung und Geheimniskrämerei. Und in fast jeder Stadt gibt es einen Weihnachtsmarkt."

"Ich bin gespannt, ob es da so aussieht wie bei unseren Märkten."
"Hm. Wir können ja versuchen rauszufinden, wo hier ein Weihnachtsmarkt ist."
Nur eine Viertelstunde später stellen wir fest: im Großraum Berlin gibt es zwanzig große Märkte und in dreiundzwanzig Stadtteilen jeweils mehrere lokale Veranstaltungen. Und da ist von Kunst bis Kitsch und von Mittelalter bis englisch, japanisch oder einfach Lichterspektakel alles dabei. Allein hier in Charlottenburg gibt es fünf Märkte.

"Das schaffen wir aber nicht alles in einer Woche!"
"Naja - ich vermute, dass ein kommerzialisierter Markt uns völlig ausreicht. Bei den kleinen, traditionellen oder themenbezogenen Märkten gibt es wahrscheinlich viel mehr zu entdecken."
"Na, dann los!"
"Ganz ruhig, Brauner. Diese Märkte öffnen in der Regel nicht vor 14.00 Uhr ihre Stände. Wir haben alle Zeit der Welt, hier anzukommen, die Wohnung zu erobern und durch diesen Stadtteil zu bummeln."

Draußen bricht die Morgendämmerung herein, drinnen machen wir es uns gemütlich. Wir frühstücken mit Adventskranz, So-Ra streift durch die Wohnung und findet Dinge, an die sie sich erinnern kann.
"Ach, kuck! Die ganzen Fotos auf dem Kaminsims. Er hat sie wirklich in Ehren gehalten. ... Es ist mir völlig schleierhaft, wie du vermuten kannst, dein Onkel hätte an dir nur seine Pflicht erfüllt."
Ich gehe nicht auf den letzten Satz ein.
"Im März haben mich diese Familienfotos fast umgebracht. Ich weiß nicht, WIE lange ich kein Foto von meinen Eltern mehr in der Hand hatte. Inzwischen kann ich das gut aushalten. Deshalb hab ich sie stehen lassen."
"Das Graduationfoto von uns. Den Tag werde ich nie vergessen! Da sind wir das letzte Mal auf die Garage vom Hausmeister geklettert. Erinnerst du dich?"
Abrupt drehe ich mich um, als wäre ich ferngesteuert.
"Nur ungern."

Sofort verlasse ich den Raum.
Wie euphorisch ich war, als ich am nächsten Morgen beim Frühstück verkündet habe, wie ich mir die nächsten Jahre meines Lebens vorstelle. Wie sehr habe ich mich selbst belogen! Um aus der Komfortzone zu kommen und sich selbst zu reflektieren, braucht es schon etwas mehr als eine Reise nach Amerika und ein Mathe-Studium. Ich bin ausgezogen, habe studiert - und alles blieb genau so wie vorher.
Heute weiß ich: Ich konnte gar nicht an mich selbst rankommen, weil ich schon als Kind alles in mir getötet hatte, was mich zu der gemacht hatte, die ich damals war. Heute bin? Keine Ahnung! Der versteckte Schmerz in mir, die unbewussten Schuldgefühle haben nachhaltig die Entwicklung meines Wesens beeinflusst. Und ich werde niemals erfahren, wer ich heute wäre, wäre nach dem Unfall ... irgendwas anders gelaufen.

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