59 - Gefühls-Puzzle

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"Sagtest du gestern nicht, du wolltest die Pförtnerei ein bisschen adventlich dekorieren? Das ist leider völlig untergegangen bei deiner seelischen Not."
Namjoon schaut sich in meinem Wohnzimmer um.
"Auch hier sieht es noch so gar nicht nach Weihnachten aus. Dabei glaube ich, das würde dir helfen."
"Hm. Aber alleine schaffe ich das nicht. Und das Bisschen, was ich an Schmuck habe, reicht auch nicht für hier und bei euch. Ich habe darum vorgestern noch einiges bestellt."

"Hast du Lust, mir auf alten Fotos zu zeigen, wie ihr früher immer dekoriert habt? Oder würde das zu sehr weh tun?"
Erst zucke ich zusammen, aber dann fühlt es sich auf einmal richtig an.
Ich bin zwar grade zermürbt und wie überrollt von all dem Neuen. Aber vielleicht hat Joon recht, und ich sollte mich grade deshalb an Gewohnheiten und Ritualen festhalten. Damit ich nicht völlig die Balance verliere. 
Ich überlege kurz, welches Album am Erfolgversprechendsten ist, dann greife ich ein Grünes aus dem Regal. Ich habe mich nicht geirrt. Am Anfang feiere ich grade meinen zehnten Geburtstag. Und das letzte Viertel zeigt uns und die Villa in weihnachtlicher Festtagsstimmung.

"Das sieht ja ganz anders aus als das inhaltsleere superglitzerdingeldengelkunstschnee-Weihnachten, das hier immer die Stadt befällt wie ein Virus. Viel ... schlichter. Ist das typisch deutsch? Oder europäisch? Oder christlich? Jetzt hast du mich neugierig gemacht."
Ich lächele und fühle mich wohl.
"Warte. Das Wichtigste überhaupt geht immer und überall."
Jetzt muss ich improvisieren, weil der ganze Weihnachtskram im Auto und die Bestellung noch nicht hier ist. Was ist das Wichtigste am ersten Advent? Advent! Kerzen. Kranz. Hm.
Ich schaue mich um, was mir helfen könnte. 
Ich könnte ...
Ich hole im Schlafzimmer die Kiste mit Herbstdeko vom Schrank, die ich dieses Jahr bei all dem Trubel gar nicht ausgepackt hatte. Darin ist nämlich auch ein aus Weidenzweigen geflochtener Kranz. Den schnappe ich mir und bringe ihn ins Wohnzimmer. In der Küche finde ich eine Kuchenplatte als Unterlage und vier Teelichter.

Fragt sich nur, wie ich die jetzt sicher am Kranz befestigen kann ...
Gläser!
Ich hole vier Cognacgläser aus dem Schrank. Dazu rotes, grünes und ein bisschen goldenes Schleifenband. 
Wenn ich jetzt ...
Mit Paketklebeband befestige ich die Standfüße der Gläser am Kranz.
Nicht schön, aber selten.
Dann drapiere ich die breiten Bänder von unten um den Kranz nach oben und immer drumrum, damit man das Paketband nicht mehr sieht, und binde fette Schleifen um die Stiele der Gläser.

Schon viel schöner. Hab ich irgendwo buntes Papier? Hm. Mein Schreibtisch gibt nicht viel her. ... Aber weiß tuts auch. Hoffentlich krieg ich das noch hin!
Ich schneide mir acht kleine Quadrate, falte sie dreimal und suche mir eine kleine Schere.
Mist! Die Zeiten, in denen ich Weihnachtssterne gebastelt habe, sind lange her.
Also hole ich meine Nagelschere aus dem Bad und probiere einfach drauflos. Vier verschiedene Sternformen gelingen mir schließlich. Ich falte sie auseinander, streiche sie glatt und lege sie zwischen den Gläsern auf den Kranz. Das muss reichen. Teelichter rein.
Fertig!

"Fertig!"
Ich plumpse neben Namjoon aufs Sofa und betrachte stolz meinen improvisierten Adventskranz.
"Dafür, dass ich basteltechnisch so eingerostet bin, ist der nicht schlecht geworden."
Namjoon dreht mich zu sich rum, nimmt mich in die Arme und strahlt dabei, als hätte er im Lotto gewonnen.
"Is was, Schatz?"
"Oh ja. DU bist! Du hättest dir zusehen sollen in der letzten halben Stunde. Ich bin vom Zusehen glücklich und entspannt. Du warst so konzentriert auf dein Werk, und gleichzeitig so leicht und verspielt wie schon lange nicht mehr. Was auch immer dieses Ding ist - es ist wunderschön!"

Ich lasse mich einhüllen von seiner Wärme und denke nach.
Wie um Himmels Willen erklärt man einen Adventskranz?"
"Ich versuche mal, das 'Ding' zu erklären. Es bed..."
Joon schüttelt den Kopf.
"Shhhhhht! Es geht grade nicht darum, dass ich da was verstehe. Es geht darum, dass es dir gut getan hat. Du hast dich fallen lassen, entspannt, deiner Kreativität freien Lauf gelassen. Daran zu werkeln, hat dich glücklich gemacht. DAS ist das Schöne. Ich habe die ganze Zeit hier gesessen und war einfach nur fasziniert, dir dabei zuzusehen, wie du immer glücklicher geworden bist."
Ich bin ehrlich verblüfft.
Recht hat er. Ich sollte es genießen.
Ich zünde das erste Teelicht an, kuschele mich auf Namjoons Schoß, nehme seine wohltuende Nähe wahr und summe leise "oh Tannenbaum" vor mich hin. Was anderes fällt mir so schnell nicht ein, aber das ist ja egal. Für diesen Augenblick geht es mir gut.

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