21 - Wege aufeinander zu

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Jeongguk steht mitten im Gemeinschaftsraum, unschlüssig, wohin mit Händen und Füßen, und schaut niemand an. Taehyung liegt mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und wippt mit den Füßen zu der Musik, die er grade hört. Hoseok ist nicht zu sehen, und Jin wurschtelt mal wieder in der Küche. Yoongi macht es sich im einzigen Sessel im Raum gemütlich. Hätte ich nicht eben all die Narben gesehen, würde mich dieser Moment unendlich glücklich machen.
Wie viel Frieden ist hier schon eingekehrt! Aber so ...
Ich setze mich auf den nächsten Stuhl und warte ab, was jetzt kommt.

Taehyung merkt, dass der Raum auf einmal voller Leute ist, macht seine Musik aus und beobachtet uns still.
Unser Jüngster ballt seine Hände zu Fäusten, holt tief Luft und fragt laut in den Raum.
"Jin?"
In der Küche scheppert es kurz, dann dauert es eine Weile, bevor der Angesprochene den Kopf zur Tür reinsteckt. In seiner Stimme schwingt eine seltsame Mischung aus Angst und Entschlossenheit.
"Ja?"
"Was hab ich diesmal getan?"
Mir bleibt die Luft weg. Ich habe ja zum ersten Mal so richtig erlebt, dass Jeongguk einen Totalaussetzer hat. Also ist auch diese Hinterhersituation neu für mich. Der Schmerz in dieser noch jugendlich-unreifen Stimme schneidet in den Ohren und lässt ahnen, dass für den Jungen alles noch viel furchtbarer ist, als wir erfassen können.

Jin kommt ganz in den Raum rein, und ich spüre sofort, dass etwas anders ist. Der erniedrigte, resignierte Mann von vorhin ist innen drin noch da. Aber der Mann, der leben will, hat außen die Führung übernommen.
"Spielt das eine Rolle, Gukkie? Ich weiß doch, dass du in solchen Momenten nicht Herr deiner Entscheidungen bist und hinterher alles bitter bereust. Ich weiß, dass dein Instinkt sich immer das schwächste Ziel aussucht, weil irgendwas in dir drin das so entscheidet. Aber das heißt doch nicht, dass ich der Schwächste bin."
Mir fällt die Kinnlade runter.

"Ich selbst habe das viel zu lange geglaubt, und es wird wahrscheinlich noch drei Ewigkeiten dauern, bis in meinen Gefühlen ankommt, was mein Verstand vorhin begriffen hat: ich bin kein Versager. Ich bin keine Nullnummer. Ich bin ein Teil dieser Gemeinschaft, und ich trage meinen Teil dazu bei, dass es uns allen so gut geht wie schon seit Jahren nicht mehr. Ich staune selbst, dass ich das laut so sagen kann. Aber: ich hab dir vorhin einfach nur zufällig im Weg gestanden. Mehr nicht."
Ich möchte laut jubeln.

"Wenn du mich so wie heute gegen die Wand schubst und beschimpfst, dann meinst du nicht mich. Sondern deine Angst, die du dir vom Leib halten musst. Ich will lernen, mir diese vergammelten Schuhe nicht mehr anzuziehen, weil ich glaube, dass mich dann solche Situationen nicht mehr so runterziehen. Wir Älteren hier wünschen uns alle von ganzem Herzen, dass du deine wie auch immer furchtbare Last endlich loswerden kannst, weil wir es nicht mehr mit ansehen können, wie es dich von innen her auffrisst. ... Komm her!"

Jeongguk hat irgendwann den Blick gehoben und Jin mit fast kindlich naiv staunenden Augen angestarrt. Er rührt sich keinen Millimeter. Ich könnte aber nicht sagen, ob aus Scham oder aus Verblüffung. Jin dagegen macht die letzten Schritte auf den irritierten Jungen zu und nimmt ihn einfach in die Arme.
"Wenn du doch nur endlich den Mund aufmachen würdest! Keine Bedrohung der Welt kann so furchtbar sein wie diese endlose Qual."
Jin hat Mühe, den haltlos in sich zusammensackenden Jugendlichen zu stützen. Tae springt dazu und hilft den beiden zum Sofa. Yoongi verlässt still und stumm den Raum.

Ich sitze derweil auf meiner Stuhlkante und fühle mich hin und her gerissen. Diese Mischung aus ständig wechselndem Irrsinn, Katastrophen und Lichtblicken am Horizont schüttelt mich innerlich regelrecht durch. Ich bin so angespannt, dass mir schon alle Muskeln weh tun. Aber immerhin hat der überhaupt nicht so unfähige Jin es wohl geschafft, zu Jeongguk durchzudringen. Die drei konzentrieren sich aufeinander. Also habe ich Zeit, meine jagenden Gedanken einzufangen und zu sortieren. Erschöpft vom Mitfühlen schließe ich die Augen.
Oh Mann, Karussell, kannst du mal anhalten?!? Wie sortiere ich mir das ganze denn jetzt? Am besten der Reihe nach ...

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