04 - Selbstüberwindung

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Kleiner Disclaimer - heute gibts Bilderflut. Ich habe auf Youtube in "lost places"-Videos gestöbert und MUSS Dir einfach einige der absolut nicht stilechten Screenshots zeigen.

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Mitten in der Nacht wache ich auf mit brennenden Augen und brennendem Herzen. Auch Hunger mischt sich in den Cocktail. Also beschließe ich, einfach schon jetzt den Tag zu beginnen. Wenn ich in den letzten Tagen hier dabei bleibe, trifft mich in Seoul der Jetlag nicht ganz so heftig.

Aber erstmal stehe ich in Ruhe auf, wecke meine Lebensgeister mit einer heißen Dusche und setze mich mit einem Kaffee in den wunderschönen Wintergarten, der sich an Harrys Arbeitszimmer anschließt. Es ist wieder einmal Zeit, So-Ra auf den neuesten Stand zu bringen. Die sitzt in Seoul grade in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. In mehreren Nachrichten schreibe ich ihr, was ich nun schon wieder entdeckt und erlebt habe. Sie macht mir Mut für den Endspurt und verspricht mir, mich vom Flughafen abzuholen. Sie bietet mir sogar an, mich zur Ruine zu begleiten, aber ich glaube, da muss ich alleine durch.

Schnell verdränge ich den Gedanken wieder und mache mich an die Arbeit. Die Zeit in Berlin vergeht jetzt wie im Flug, angefüllt mit tausend Handgriffen und Entscheidungen, die sich nicht aufschieben lassen. Ich verlasse kaum noch die Wohnung, verlebe die Tage mit sichten, aussortieren, suchen und finden, lachen und weinen, wirbeln und ausruhen. Wenn die Seele nicht mehr weiter kann, koche ich mir einen Tee, schnappe mir das neue Notizbuch und schreibe, schreibe, schreibe.

Zu meinem eigenen Erstaunen schreibe ich Briefe - an Onkel Harry. Er hat das Buch mit einem Brief begonnen, und es fühlt sich vollkommen natürlich an, ihm einfach zu antworten. Genauso selbstverständlich bekommt das Buch zwei Anfänge. Im Anschluss an seinen wundervoll warmen, liebenden letzten Gruß erzähle ich ihm immer, wenn mir danach ist, was in meinem Leben nach seinem letzten Besuch alles geschehen ist.

Von der anderen Seite her fülle ich das Buch mit dem Jetzt - mit dem Moment, an dem ich den dicken Brief in Händen hielt, den Momenten, als mich das schlechte Gewissen wie ein wilder Löwe überfiel, als ich zum ersten Mal in der Kanzlei saß, zum ersten Mal seine Wohnung in Berlin betrat, an seinem Grab stand, dieses Buch fand. Ab da nutze ich diese Seite des Buches als aktuelles Tagebuch, um meine Gedanken und Gefühle festzuhalten, Trauer rauszulassen, Entscheidungen abzuwägen, - mir selbst auf die Spur zu kommen. Immer öfter lausche ich in mich hinein, entdecke Bedürfnisse und Sehnsüchte, Ausweicheritis und Aktivismus, meinen Verstand und meine Intuition. Dann wieder stehe ich auf und packe die nächste Aufgabe an.

Lange denke ich darüber nach, wie es mit dieser Wohnung weitergehen soll, denn ich kann ja schlecht jede Woche zum Blumengießen nach Berlin fliegen.
Wenn ich in Seoul bin, muss sich hier trotzdem jemand kümmern.
Auf dem Weg zum Bäcker komme ich mit der freundlichen, rüstigen Rentnerin aus der Nachbarwohnung ins Gespräch. Sie bringt grade ihren Müll runter. Wenige Minuten später hat sie einen Minijob und ich eine Sorge weniger. Frau Blumenthal wird sich ein Taschengeld dazuverdienen und dafür regelmäßig nach der Wohnung, den Blumen, der Post schauen und vielleicht auch mal für mich etwas bestimmtes erledigen.

Am Freitag Morgen stehe ich genau so früh auf wie an den letzten Tagen. Ich packe still meine Sachen, wandere noch einmal still durch die Räume, drehe mich still in der Wohnungstür um, um noch einmal einen tiefen Atemzug vom typischen Duft von Onkel Harrys Leben zu nehmen - schließe die Tür ab und gehe nach unten, wo mein Taxi auf mich wartet. Onkel Harry ist fort. Aber sein Geist und seine Liebe werden immer bei mir sein, über mich wachen. Er kann ja gar nicht anders. Und ich brauche schon wieder Taschentücher ...

Um mich abzulenken, checke ich noch mal meine Flugverbindung über Helsinki nach Seoul.
BER 8.55 - 2H - HELSINKI HEL
HEL 17.30 - 11,45 - ICN SEOUL
Der Flug geht über Nacht, und in Korea ist es dann schon einen Tag weiter. Dann habe ich noch zwei Tage Wochenende, um endgültig wieder auf mein normales Leben in der richtigen Zeitzone zu schalten.

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