Ich nehme meine Unterlagen, gehe zum Podium und bleibe dort als erstes vor der Staffelei stehen. Stumm richte ich meinen Dank an Harry, verbeuge mich vor seiner Größe, die ich mein ganzes Leben lang spüren durfte. Dann trete ich ans Rednerpult, sortiere mich kurz und blicke mein Publikum an.
Ich habe mein Script in der Hand, die Bildermappe vor mir auf dem Pult, Namjoons Worte noch im Ohr - und das nächste Blackout. Ich muss lächeln. Kurz schließe ich die Augen und fühle in mich hinein."Vermutlich sind manche von Ihnen bei der Pressekonferenz in der letzten Woche dabei gewesen. Ich stand dort vorne - so wie jetzt -, hatte mein ausgefeiltes Script in den Händen - so wie jetzt -, und ein totales Blackout. So wie jetzt. Also habe ich mein Script weggelegt - so wie jetzt - und frei aus dem Herzen gesprochen - so, wie ich es auch heute versuchen will. Immerhin habe ich es an jenem Tag mit Hilfe einer anwesenden Reporterin geschafft, mein Thema für heute zu finden, und dem will ich auch gerne treu bleiben."
Das Schmunzeln unserer Gäste geht über in gespannte Erwartungshaltung."Als meine Mutter in Berlin geboren wurde, war mein Onkel Harald Schuchardt bereits vierzehn Jahre alt. Nach dem Abitur studierte er deutsches und internationales Recht und Betriebswirtschaft, promovierte und bekam wenig später eine Anstellung hier in Seoul. Wie er es sein Leben lang getan hat, nahm er die Herausforderung an, lernte die Sprache, die Kultur und Geschichte und stieg rasch die Karriereleiter hinauf.
Er war ein introvertierter Mann, still, klar, freundlich, ein guter Zuhörer und gewiefter Geschäftsmann. Er verbrachte einen großen Teil seiner Freizeit mit Büchern, Musik und Kunst, spielte selbst Querflöte und Gitarre, war ein interessanter Gesprächspartner und liebte es zu philosophieren.
Meine Mutter fing nach dem Abitur an, Kunst zu studieren und zu malen. Wenige Monate später verunglückten meine Großeltern. Ihr Auto rutschte auf Glatteis gegen einen Baum."Verrückt! Ich habe sie nie kennen gelernt, und trotzdem bin ich grade den Tränen nahe.
"Daraufhin zog auch meine Mutter nach Korea, lernte die Sprache und nahm schließlich hier ihr Studium wieder auf. Mein Onkel empfand tiefe Trauer und eine große Verantwortung - er 'erbte' sozusagen seine kleine Schwester. Er schwor sich, immer gut auf sie aufzupassen.
Meine Mutter hat eine Weile gebraucht, bis sie diese abrupte Veränderung in ihrem Leben verdaut hatte. Ihr war wohl auch nie klar, ob sie nach dem Studium bleiben oder zurück nach Deutschland gehen würde."
Ach nee. War meine Mutter auch so eine Zauderin wie ich? Die Entscheidungen lieber aufgeschoben als gefällt hat? Das ist spannend!"Nach dem Studium lernte sie dann einen Kollegen meines Onkels kennen und lieben, und so beantwortete sich die Frage von selbst.
Ich wurde im Februar 1990 geboren und selbstverständlich mit beiden Sprachen und Kulturen erzogen. Onkel Harry wurde mein Patenonkel. Von klein auf war ich immer wieder für Stunden oder Tage Gast in diesem Haus. Der Garten war ein Märchenwald, mein Spielplatz ein verwunschener Ort und die Bibliothek meines Onkels das Reich meiner Träume. Er selbst war für mich ein weiser, alter Mann, ein Zauberer, eine Antwort auf alle neugierigen Fragen, Fels in der Brandung, Lehrer, Spielkamerad und Freund.
Im Dezember 1993 habe ich mal wieder bei Onkel Harry übernachtet, weil meine Eltern ins Theater gehen wollten. Doch ich bekam Fieber, und so rief mein Onkel nach der Vorstellung bei ihnen an, um sie zu informieren. Eine halbe Stunde später verunglückten meine Eltern. Ihr Auto rutschte auf Glatteis gegen einen Baum."
Mir versagt die Stimme. Intuitiv habe ich zweimal die selben Worte gewählt. Entsetztes Gemurmel geht durch den Saal."Zwei Tragödien, beide gleich, beide gleich entsetzlich. Und diesmal fühle er sich unmittelbar schuldig. Hätte er doch nur nicht angerufen! Zeit zum Trauern blieb ihm nicht. Von heute auf morgen erbte er wieder eine große Verantwortung, diesmal in Gestalt seiner nicht mal vier Jahre alten Nichte. Treue Freunde haben seitdem seinen und meinen Weg begleitet und vieles aufgefangen.
Was er nicht wusste, war, dass auch ich mich schuldig gefühlt habe. Immerhin war ICH ja krank gewesen, war ich der Auslöser für diesen verhängnisvollen Anruf. Das Kind Cornelia hat die Schuld auf sich bezogen und dann, um nicht daran zu zerbrechen, innerhalb von drei Jahren alles vergessen. Alles. Geredet, uns gegenseitig entlastet und freigesprochen haben wir uns darum nie. Still haben wir versucht, einander zu trösten."
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STAY GOLD
FanfictionEndstation. Sieben junge Männer stranden in einer alten Ruine, gefangen in Scham, Resignation, Schuld, Wut und Angst vor dem Morgen. Ein Teufelskreis. Spirale abwärts. Der Luxus ist verblasst, ihre Lebensträume sind vor die Wand gefahren - nichts ge...