100 - "Du darfst vertrauen."

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Irgendwann muss ich wieder eingeschlafen sein. Ziemlich verkatert wache ich am späten Vormittag im Schlafzimmer auf, weil es nach Kaffee duftet. Namjoon küsst mich wach und verwöhnt mich nach Strich und Faden. Gut, dass heute Sonntag ist, und wir viel Zeit haben, den Horror von gestern zu verdauen.
Wir lassen uns zur Mittagszeit von Jins neuesten Kreationen verzaubern und machen dann einen langen Spaziergang am Bukhansan. Außer uns ist niemand unterwegs - die Kälte und der winterlich kahle Wald sind nicht sehr verlockend. Aber uns tut es grade gut, ungestört zu reden und dabei richtig auszugreifen.

Die Bewegung setzt auch in mir etwas in Bewegung, und als wir auf dem Rückweg an dem Leiterbaum vorbeigehen wollen, mache ich plötzlich eine Vollbremsung.
"Halt mich ganz fest!"
Zum Glück switche ich nicht in den Kinderkörper, aber die weinende kleine Nelli, die da vor meinem inneren Auge an uns vorbei auf den Baum rast, sich dort zwischen den Zweigen versteckt und schluchzt, scheint mir so real, als könnte ich sie berühren.

Namjoon spürt meine Anspannung und folgt meinem Blick.
"Siehst du da was, Liebes?"
"Irgendwie so, ja. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich vor Oh-Ryu hierher auf den Baum geflohen bin. Es ... es wirkt unglaublich real. Ich kann die Verzweiflung des kleinen Mädchens regelrecht spüren. Das raubt mir richtig den Atem."
Sanft legt Namjoon mir eine Hand auf den Bauch.
"Dann vergiss das Luftholen nicht, Nelli."
Ich bemühe mich um inneren Abstand zu dem traurigen Kind und atme ein paarmal tief durch.

"Kannst du ... glaubst du, du könntest dem armen Kind etwas sagen? Es irgendwie trösten?"
Ich will schon den Kopf schütteln, weil mir nichts einfällt, aber da fängt die kleine Nelli in meiner Erinnerung an zu rufen.
'Mama. Mama! Wo bist du? Du musst zurückkommen. Ich kann bei Onkel Harry nicht mehr bleiben. Komm zurück und hilf mir, Mama.'
Es reißt mich schier in Stücke. Ich weiß wieder, dass es diese Situation ganz genau so gegeben hat. Ich habe wirklich einmal so verzweifelt auf diesem Baum gehockt und nach meiner Mutter gerufen. Ich hatte Angst, dass Harry mich rausschmeißt, weil ich böse bin. Es war ein paar Wochen vor dem Sandkastentag. Der Druck war unerträglich geworden.

Und jetzt weiß ich auch, was ich dem Kind versprechen kann. Erst wiederhole ich Namjoon, was ich grade in meinem Kopf gehört habe. Er zuckt zusammen, als wäre er geschlagen worden. Dann richte ich mich auf, sehe das Kind in meinem Kopf fest an und spreche ihm laut Mut zu.
"Nelli? Hab keine Angst, Nelli. Onkel Harry würde dich niemals wegschicken. Er liebt dich so sehr, wie er deine Mama geliebt hat. Sehr!"
Neugierige, ganz verweinte Augen schielen durch die Zweige zu mir herunter.
"Diese Frau erzählt dir lauter Lügen, hörst du? Du bist nicht böse. Du hast keine Schuld. Du darfst Onkel Harry vertrauen. Sag es ihm, wenn sie dir wieder wehtut. Du musst das nicht aushalten. Ich verspreche dir - er wird dir glauben und dich beschützen. Hab keine Angst, ihm die Wahrheit zu sagen."
Nach einer scheinbar endlosen Stille nickt das kleine Gesicht zwischen den Zweigen. Es sieht nicht mehr ganz so verzweifelt aus. Dann verschwindet es.

Das Bild wandelt sich. Ich spüre wieder die Kälte, spüre Joons Hände, die mich halten, nehme den Wind in den Zweigen wahr, das schwindende Licht des Winternachmittags. Und in mir kehrt allmählich Ruhe ein.
Mit einem Seufzer lehne ich mich an Namjoon. Warm sieht er mich an und fragt leise nach.
"Geht es dem Mädchen jetzt besser? Du hast wunderbar liebevolle Worte gefunden für dein inneres Kind."
"Hoffentlich. Wahrscheinlich wird nun auch bald der Moment kommen, wo Harry begreift und sie tatsächlich beschützt. Die Qual muss ein Ende finden! ... Ich bin wirklich froh, dass er mir damals dann geglaubt und sich für mich entschieden hat."
...
"Und dass er den Moment gemalt hat, damit ich heute sehen kann, wie er und ich damals gefühlt haben."

"Weißt du - allmählich wundere ich mich nicht mehr, dass du auch nach dem Rauswurf von dieser Frau noch mehrere Monate gebraucht hast, um wieder zur fröhlichen Nelli zurückzufinden. So-Ra hat recht. Sie hat dein Vertrauen in die Menschen, in deinen Onkel, in das Leben zerstört. Danach legt man nicht einfach den Schalter wieder um.
Aber - was ich nicht verstehe - nachdem die Hexe weg war, war doch eigentlich ... Ich mein' - warum kam erst mit Wochen Abstand der Sandkastenmoment? Ich dachte bisher immer, das muss der absolute Tiefpunkt gewesen sein."
Ich muss an das denken, was So-Ra gestern gesagt hat.
"Vielleicht ... vielleicht war mein Vertrauen in Harry und ... ja, auch in mich selbst so gründlich zerstört, dass ich seiner bedingungslosen Zuwendung nicht mehr glauben konnte. Vielleicht ist er tatsächlich für eine Weile gar nicht an mein Inneres rangekommen."

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