56 - das Loch

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Triggerwarnung:
Nellis lange verschüttete Erinnerungen bahnen sich ihren Weg ins Bewusstsein.

Pass gut auf Dich auf!

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Der Samstag vorm ersten Advent beginnt mit einem strahlenden Sonnenaufgang. Es ist bitterkalt, aber die klare Luft hier am Berg ist herrlich. All das restliche Baumaterial, die Müllcontainer, die Büroburg, die Maschinen und Handwerkerautos sind verschwunden. Die Einfassungen der neu angelegten Beete, die noch nackte Muttererde überall dort, wo Jimin im Frühjahr die ersten Pflanzen setzen wird, der schmiedeeiserne Zaun, die gepflasterten Wege, die Bänke an den kleinen Alleen, jedes Zweiglein an den Büschen und Bäumen ist überzogen mit einer dünnen Schicht Raureif. Wo die Sonnenstrahlen die kalte Pracht erreichen können, glitzert alles wie Edelsteine im Licht. Der ganze Park sieht aus wie eine funkelnde Wunderwelt, als ich zum Frühstück komme.

Leise beobachte ich Jimin, der im Morgenlicht umherstreift, immer wieder stehen bleibt und zärtlich einzelne Blätter und Zweige berührt. Wie er einen winzigen Eiszapfen an einem Ast entdeckt, still vor sich hin lächelt und weiterschlendert. Er scheint mich nicht bemerkt zu haben.
Allein für Jimin hat sich der ganze Aufwand gelohnt. Ach was! Für sie alle. ... Für uns alle. ... Ach je - Das ist mal wieder typisch für mich. Ich komm wie immer am Schluss der Aufzählung.

Ganz weit weg in Gedanken schlendere ich rüber zur Pförtnerei, will nicht drüber nachdenken, zähle zu meiner Ablenkung rötliche Steine im Pflaster und stolpere deshalb fast in die Hecke, statt den Durchgang anzusteuern.
Zu früh abgebogen ...
Nur einem beherzten Sprung von Jimin verdanke ich, dass ich rechtzeitig bremse. Er ist im selben Moment auch hier angekommen und hält mich einfach mitten im Laufen fest.
"Uff! Danke, Jimin. Ich war so in Gedanken ..."
"Das sah so aus, ja. Hoffentlich ist dir nichts passiert!"
"Nene, alles gut. Du warst schnell genug."
Dankbar schaue ich ihn an und ernte dafür eines seiner scheuen Lächeln.
"Lass uns reingehen, oder?"

Fröhlich setzen wir uns mit den anderen an den reich gedeckten Tisch. Jin hat schon wieder gezaubert. Vor ein paar Tagen hat er mich ausgefragt, ob es in christlichen Ländern typische Weihnachtsgerichte gibt, und was die bedeuten. Er hat offensichtlich gut zugehört. Es beginnt mit Dresdner Christstollen, englischem Orangengelee, einem österreichischen Hutzelbrot, das im Wesentlichen aus schwerem Hefeteig und jede Menge Dörrobst und Nüssen besteht, und Pflaumen-Zimt-Mus. Es folgen selbstgemachte schlesische Bratwürste mit einem Hauch Zitrone und der traditionellen Lebkuchensauce. Zum Nachtisch stellt er noch Berge unterschiedlichster Plätzchen wie englische Chocolat Mint Cookies, französische Diamant a la Vanille, deutsches Schwarzweißgebäck oder italienische Mandelkekse und Torrone in die Mitte.

Ich schüttele den Kopf, grinse breit und freue mich wie Bolle über seine gelungenen Köstlichkeiten.
"Du bist verrückt! Der Advent hat doch noch gar nicht angefangen. Und eigentlich ist im Advent unter der Woche Fastenzeit. Du hattest mich nach WEIHNACHTEN gefragt."
"Keine Sorge. Ab Montag gibts vier Wochen lang Karpfen. Jeden Tag ein bisschen anders gewürzt."
Namjoon hebt abwehrend die Hände.
"Deine Liebe für Fisch in allen Ehren. Aber dann faste ich lieber gleich ganz."
Ich verschlucke mich fast an einem Terrassenplätzchen mit Himbeer-Johannesbeergelee-Füllung vor lauter Lachen.

"Hm. Ich könnte für dich eine Ausnahme machen und den Karpfen in ganz viele Speckstreifen wickeln. Aber das verstößt eigentlich gegen die mönchischen Fastenregeln des heiligen ... des heiligen ..."
Hilflos sieht er mich an.
"Such dir was aus: Benedictus, Franziskus, Ludgerus, Bonifacius. Keine Ahnung, wer für den Speisenplan in Klöstern zuständig war. Sag mal, hast Du Dich durch die Encyclopaedia Britannica gewühlt? Von mir hast du diese ganzen Informationen nicht!"
Jin antwortet nicht sondern steckt sich stattdessen einen amerikanischen Creme-Whoopie in den Mund. Das sind kleine Doppeldecker, und der Teig enthält unter anderem Rotebeetesaft, Zimt, Kakao und Buttermilch. Aber Jin sieht bei meinem Kompliment ziemlich stolz und zufrieden aus.

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