91 - Das Netzwerk der Hoffnung e.V.

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Hab ich geschlafen heute Nacht? Keine Ahnung. Hab ich genug geschlafen heute Nacht? Keine Ahnung. Bin ich - ganz ohne Wecker - rechtzeitig aufgewacht? Sowas von! Es ist noch stockdunkel draußen, als ich mit einem ersten Kaffee meine Lebensgeister wecke.

Heute! Heute ist der Tag, auf den ich fast neun Monate lang hingearbeitet habe. 'Finde einen wohltätigen Zweck deiner Wahl'. Wie viel Kopfzerbrechen, zaudern, stolpern, in die Irre gehen, scheitern hat diese Frage verursacht. Und doch: es war ein Weg, der zum Ziel geführt hat. Es war MEIN Weg. Es IST MEIN Weg.

Das war ein seltsamer Moment gestern, als ich traurig wurde, dass Harry heute nicht dabei sein kann - und mir dann plötzlich die Beine weggesackt sind. War das ein letztes Aufbäumen meines schlechten Gewissens? ... ... ein 'letztes' ... Ja, sowas! Heißt das ... das heißt ..., ... dass ich tatsächlich über das schlechte Gewissen hinweggewachsen bin. Sonst hätte ich das grade nicht so denken können! Ich habe meine Eltern nicht getötet. Harry hat selbst entschieden, zurück nach Deutschland zu ziehen, seine Krankheit vor mir zu verbergen, mir all die Informationen über mein Leben nur häppchenweise zukommen zu lassen.

Mal wieder begreife ich, dass ich 'Sarang Namja' und genau richtig so bin. Spontan reiße ich die Tür zu meinem kleinen Balkon auf und fange sofort an zu zittern. Ich ignoriere das - Lebensfreude und Selbstannahme wärmen von innen. Ich atme tief die frische Winterluft ein, höre die wohltuende Stille, sehe den allerersten winzigen Streifen Morgendämmerung im Osten auftauchen, spüre die Freiheit und das Glück in meinem Leben.

Mein Telefon ruft mich wieder ins Warme. Namjoon und die anderen Jungs sind grade aufgestanden, werden gleich frühstücken, tief Luft holen und sich dann in diesen besonderen Tag stürzen. Hobi und seine Tante werden heute Abend doch in der Stadt bleiben, weil der Vater wohl zurückgerudert ist. Und Jin hat eben wider alles Erwarten seine Eltern in die Pförtnerei zum Abendessen eingeladen, mit der Bitte zu respektieren, wenn er wieder allein sein möchte. Sie haben zugestimmt.
Hoffentlich kann aus dieser Begegnung Respekt erwachsen.

Ich mache mein Handy ganz aus und tauche mit großer Achtsamkeit ab in meine angenehme Morgenroutine. Ich lasse mir Zeit. Ich möchte jeden Moment dieses besonderen Tages sehr bewusst erleben.

Nach dem Frühstück habe ich noch etwas Zeit, bevor ich los muss. Ich denke nach über meine Rede, wie ich Harry ins rechte Licht rücken kann. Ich habe ein sehr gutes, etwas älteres Foto zur Verfügung gestellt, das ab morgen in der Eingangshalle hängen wird. Aber jetzt wird mir auf einmal klar, dass ich die perfekte Möglichkeit habe, Harry ganz persönlich vorzustellen. Ich greife mir die Bildermappe und suche gezielt nach ein paar seiner Bilder. Die werde ich während meiner Rede zeigen. Das wirkt bestimmt gut. Ich muss sie ja nicht aus der Hand geben. Dann kann auch keiner lesen, was hinten drauf steht. Ich überfliege am Computer meine Rede, passe sie an die gewählten Bilder an, drucke sie noch mal aus und packe diese Seiten zusammen mit der Bildermappe ein.

Dabei fällt ein Bild aus der Mappe, das ich bisher noch nicht gesehen hatte. Zum Glück ist es harmlos, gemalt wie die anderen - und doch ist etwas völlig anders. Es zeigt mich in der Bibliothek vor der großen Bücherwand, offensichtlich fasziniert von den Büchern und der darin verborgenen Welt. Aber es zeigt mich viermal, in unterschiedlichem Alter. Mal im Nachthemd, ganz vertieft. Mal bei einem waghalsigen Balanceakt. Mal strecke ich mich gradezu aus nach Wissen und Weisheit. Ich bin fasziniert. Ich muss den Brief hinterdrauf gar nicht lesen, das Bild selbst ist wie ein Brief. Allerdings fällt mir auf, dass vier verschiedene Daten auf der Rückseite stehen.
Das muss ich unbedingt auch zeigen!

Noch nie - selbst gestern nicht - war ich bei der Fahrt zum Bukhansan so aufgeregt wie heute. Der Weg zieht sich endlos und rast gleichzeitig blitzschnell vorbei. Da die Villa das letzte Haus an der Straße ist, war es kein Problem, alles absperren zu lassen. So können die Gründungsmitglieder den Weg rauf, zum Portal gefahren werden, eigens angestellte 'Jungs für alles' fahren dann die Wagen wieder runter und reihen die schicken Karossen an der Straße auf. Wer kein geladener Gast mit schriftlicher Bestätigung ist, kommt fünfzig Meter vor der Villa gar nicht mehr weiter.

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