16 - aber bitte ohne Gefühl

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Als der Juni zu Ende geht, sind die Trocknungs- und Entgiftungsarbeiten an der Villa weitgehend abgeschlossen. Alle Mauern, Böden und Decken sind von einem Statiker geprüft. Die Arbeiten verlagern sich nun überwiegend in die Höhe und nach drinnen. Das kommt grade richtig, denn der Sommer packt jetzt alles aus. Wir sind hier zwar am Waldrand, aber in der Megastadt staut sich die Hitze in den Canyons aus Beton und Glas und schiebt sich auch die Hänge des Bukhansan hoch.
Zunächst sollen die Treppe in den zweiten Stock und der gesamte Boden dieses Dachgeschosses saniert werden. Dann können nämlich endlich auch bei uns die Dachschindeln runter. Der alte Dachdeckermeister spaziert unter den Resten des Dachgestühls umher, plant, misst, rechnet, kalkuliert und kramt in seinen Erinnerungen.

Es hat sich eingespielt, dass ich mich am Montag Nachmittag mit dem Architekten vor Ort abstimme, am Mittwoch Abend mit einem Abendessen oder Zutaten fürs gemeinsame Kochen bei den Jungs anrücke, am Freitag Nachmittag mit den Firmenchefs die Woche reflektiere und am Samstag Morgen den Männerhaufen mit Frühstück aus den Betten werfe. So habe auch ich freie Abende, aber alle wissen, wann sie mich wo erwischen. Die beiden Handys für die Allgemeinheit leisten sehr gute Dienste, sind im Dauereinsatz und haben schon viel Zeitersparnis gebracht.

Also kaufe ich noch ein drittes, damit Taehyung und seine Familie sich gut erreichen können, egal, wo er grade ist.
Es ist so schön zu sehen, wie er gaaanz langsam Boden unter den Füßen bekommt. Er schreibt mindestens einmal unter der Woche einen Brief an seine Eltern und ist an jedem Wochenende einmal dort. Das meiste der weiten Strecke kann er mit einer S-Bahn recht zügig schaffen. Am Anfang und am Ende muss er dann noch mit einem Bus rumzuckeln. Demnächst will er ein ganzes Wochenende dort verbringen und auch übernachten.

Hoseok ist für alle zugänglicher geworden, genießt das Vertrauen der anderen und der Handwerker, ist Tae ein aufmerksamer Freund, mir ein wertvolles Gegenüber.
Jin ist ja höchst unfreiwillig aus "seinem" Keller gescheucht worden und deshalb nicht weniger depressiv als noch ein paar Monate zuvor. Aber er hat jetzt einen geregelteren Tagesablauf, häufig Menschen um sich, mehr Licht - und er hat großen Spaß daran, sich nachmittags in die Küche zu stellen und die tollsten Gerichte aus dem Ärmel zu schütteln. Wenn dann Hobi und Tae von der Baustelle und vielleicht Yoongi aus der Stadt nach Hause kommen und sich an den gedeckten Tisch setzen können, bekommt er viel Lob und spürt jeden Tag ein bisschen mehr, dass deren Dankbarkeit ganz ehrlich gemeint ist.

Da es seit Wochen nicht geregnet hat, werden das vertrocknete Gras, die toten Bäume und der insgesamt ausgedörrte Park zur Gefahrenquelle. Also erklären wir Jeongguk und Taehyung zu unseren Sicherheitsbeauftragten. Sie fällen die toten Bäume zusammen mit einem Fachmann, sägen alles in handliche Häppchen und stapeln das hinter der Werkstattgarage. Sie halten auf dem gesamten Gelände das Gras kurz, harken trockenes Laub weg und stellen an einigen entscheidenden Stellen große Tonnen auf, die sie mit Wasser füllen. Zum Beispiel überall da, wo gesägt oder geschweißt wird und Funken sprühen können. Auf der ganzen Baustelle werden Feuerlöscher verteilt. Jeongguk wird auf diese Weise auf Trab gehalten, und Tae kann seinem eigenen Bedürfnis nach Sicherheit und Sorgfalt nachgehen.

Yoongi ist noch genauso reserviert und unzugänglich wie immer. Er unternimmt viel mit Jeongguk, die beiden reden oft miteinander. Es wirkt, als ob Jeongguk ihm sehr vertraut und sich geachtet fühlt, weil Yoongi zu ihm so viel zugewandter ist als zu allen anderen. Wenn Yoongi sich unbeobachtet glaubt, empfinde ich ihn oft als unausgeglichen, frustriert, auf irgendetwas oder sich selbst wütend und ... gefangen.

An diesem Samstag Morgen muss ich die Jungs nicht aus dem Bett werfen. Schon um 10.00 Uhr ist es hochsommerlich warm. Und so empfangen sie mich bei strahlendem Sonnenschein mit einem gedeckten Tisch vor der Pförtnerei im Schatten der alten Bäume. Irgendein Romantiker hat sogar auf der wilden Wiese ganz hinten im Park einen Blumenstrauß gepflückt und mitten auf den Tisch gestellt. In Windeseile schnappen sie sich meine Einkaufstaschen und breiten das mitgebrachte Essen auf dem Tisch aus. Jeongguk schleppt mehrere Kannen Kaffee aus der Küche. In seinem Fahrwasser folgt Jin mit einer sehr großen Pfanne, in der ein sehr hoher Berg Rührei darauf wartet, vernichtet zu werden.

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