69 - Mauern im Kopf

46 8 4
                                    

Daran, wie lange wir am nächsten Morgen schlafen, merken wir, dass wir inzwischen leider ziemlich gut an die deutsche Zeit angepasst sind. Und dass So-Ra entsprechend Schwierigkeiten beim frühen Aufstehen nach der Rückkehr haben wird. Ich bin dann zum Glück noch eine Woche krankgeschrieben. Auch wenn es mir jetzt deutlich besser geht - diese Woche werde ich noch brauchen.

Heute wollen wir einen Ausflug machen, der uns an verschiedene Orte der ehemaligen Mauer führt. Und natürlich weiter in Harrys Bildertagebuch stöbern. Nach dem Frühstück machen wir uns startklar, lachen noch einmal über die zum Teil ziemlich matschigen Schlafanzughosen, die uns gestern Abend so gute Dienste geleistet haben, und brechen auf. Wieder befragen wir Frau Blumenthal, wohin wir uns am ehesten wenden sollen. Sie freut sich sichtlich, dass wir sie so einbeziehen, und denkt eifrig mit.

"Es gibt an der Breslauer Straße einen ganzen Abschnitt, der erhalten geblieben ist. Drumrum sind ein Museum, ein Freigelände mit Mahnmal, die S-Bahn-Station Friedrichstraße, wo die meisten Bundesbürger nach Ostberlin starten mussten, ein paar der Geister-S-Bahn-Stationen, das ..."
Ich übersetze die ganze Zeit für So-Ra, und hier hakt sie sofort ein.
"Was sind denn Geister-Stationen?"

Frau Blumenthal lächelt.
"Die S-Bahn gab es schon vor der Machtergreifung der Nazis, seit den Zwanziger Jahren. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, führte darum eine Strecke mitten in der Stadt vom Westen unter Ostberlin durch zurück in den Westen. Die alten Haltestellen, die dadurch in Ostberlin lagen, wurden zwar weiterhin durchquert von der Linie. Aber dort wurde nicht mehr gehalten. Kaum Licht, keine Menschen, nicht mal Müll, durchrauschende Züge - das war wirklich gespenstisch.
Es lohnt sich, dafür einen ganzen Tag einzuplanen. Es ist alles fußläufig beieinander. Aber man kann jederzeit aufhören, wenn es einem zu viel wird. Manches ist wirklich schwer verdaulich."

"Ganz herzlichen Dank für Ihre erneute Hilfe! Wir freuen uns auf heute Abend."
Fröhlich ziehen wir los.
Ich weiß nicht, WIE lange ich nicht mehr ohne Handwerker, Entscheidungen, Katastrophen, Grundrisse und Rechnungen einfach nur ich war, mich so intensiv mit mir selbst beschäftigt und mich wirklich erholt habe. Heute ist Donnerstag. Ich habe echt lange gebraucht, um das jetzt zu spüren.
Mein Kopf und mein Herz arbeiten ja immer weiter. Aber diese Tage sind wie anhalten und Blümchen pflücken, wie Licht am Ende des Tunnels, wie der weite Blick aufs Meer an einem ruhigen Strand. Und das Bildertagebuch ist ein Geschenk des Himmels.

"Schnucki. Schnucki? ... Erde an Nelli! Kriegst du gar nicht mit, dass dein Handy brummt?"
"Hm? Oh! Sorry!"
Schuldbewusst werfe ich scheue Blicke zu den anderen Menschen in der U-Bahn, krame hastig mein Handy raus und lese die Nachricht von Namjoon.

"Guten Morgen, meine Liebe! Im Kalender an der Pinnwand steht, dass heute die Fahrtheorie und die ersten Fahrstunden starten. Gibts dazu irgendwelche Unterlagen?"
"Ups! Ja klar. Entweder in der Pförtnerei oder in meiner Wohnung. Das ist ein lilaner Ordner mit den Projekten 'Management-Schulung' und 'Fahrschule für die Jungs'. Da findet Ihr alle Termine und sonstigen Absprachen."
"Super. Für Hoseok, Jimin, Taehyung und Jeongguk, richtig? Die sind schon ganz aufgeregt."
"Genau - die vier. Hast Du den Ordner gefunden?"
"Die Büromädels haben bisher nichts, Jimin sucht noch, ich hier ... Ah! Ich hab ihn. In Deiner Wohnung. Danke! Bis nachher?"
"Natürlich bis nachher."

Wir entscheiden uns, zuerst ins Besucherzentrum zu gehen. Ein bisschen Theorie muss schon sein. Wir lernen ganz viel über das geteilte Berlin, die Entstehung der beiden deutschen Staaten, die Luftbrücke, den kalten Krieg, den Westtourismus, den Zwangsumtausch und den Bau der Mauer.
Dann kam die Zeit, wo die Menschen aus Fenstern gesprungen sind oder sich von Keller zu Keller gegraben haben, um in den Westen zu gelangen. Daraufhin hat das Regime Fenster zugemauert, ganze Häuser und sogar eine Kirche gesprengt, Scharfschützen aufgestellt.
Entlang der gesamten Ost-West-Grenze, aber eben besonders in Berlin, haben die Menschen alles versucht, um zu entkommen. Durch Minenfelder und Keller, schwimmend durch die Flüsse oder sogar Abwasserkanäle, über Mauern und Stacheldraht. Mit Autos voll Karacho durch Grenzanlagen, sogar mit einem selbst gebauten Heißluftballon.

STAY GOLDWo Geschichten leben. Entdecke jetzt