15 - Der erste Schritt

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Inzwischen ist es Mittag geworden. Einer nach dem anderen trudeln wir wieder in der Küche ein und suchen nach etwas Essbarem. Da ich sehr reichlich eingekauft habe, sitzen wir bald gemeinsam um den großen Tisch und stillen nach Lust und Laune unseren Hunger. Jin ist dabei, was mich freut. Yoongi konzentriert sich ganz auf Jeongguk. Und Tae kaut angespannt ein paar Nudeln von gestern runter.
Er hat ja gesagt, dass er eine Zeit lang sogar Essstörungen hatte. Vielleicht hat er Angst, dass er das vor lauter Aufregung wieder auskotzt?

"Sind Sie in Ordnung, Taehyung?"
"Ja! Ja, natürlich. ... Obwohl ... nein, überhaupt nicht. Ich habe mir geschworen, nie wieder aufzuhören zu essen. Aber mir ist unglaublich schlecht."
"Oje, Sie Ärmster. Ich gehe keinen einzigen Schritt, sage kein Wort, das Sie mir nicht ausdrücklich erlaubt haben. Es soll doch für Sie eine Chance sein - und nicht eine Qual."
Hoseok greift nach Taehyungs verkrampfter Hand. Die anderen verlassen mit ihren Tellern in der Hand diskret den Raum.

"Hast du denn überhaupt schon entschieden, ob du mitkommen willst? Ich kann gerne den Rest des Tages an deiner Seite sein, egal wo du bist. Wenn dir das hilft."
Taehyung entspannt sich etwas und erwidert Hoseoks Händedruck.
"Ich möchte auf jeden Fall, dass der Brief ankommt. Und eigentlich möchte ich trotz meiner Angst vor Zurückweisung gerne mitkommen."
Ich hake ein.
"Aber?"
Tae gibt ein freudloses Lachen von sich.
"Ich hab Schiss, dass ich Ihnen vor lauter Aufregung das Auto vollkotze."

Das Wechselbad der Gefühle in seinem Gesicht und seiner Stimme ist kaum auszuhalten.
"Ich ... ich komm ... mit. Ich kann mich ja neben das Auto stellen, während ich warte."
"Nochmal - möchtest du, dass ich mit dir komme und mit dir warte?"
Zaghaftes Nicken. Ein tiefer Seufzer.
"Das würde mir sehr helfen. Ja."
Ich schaue auf meine Uhr und sehe keinen Grund, nicht schon eine halbe Stunde eher dort aufzuschlagen.
"Wollen wir dann? Wir müssen das ja nicht ausreizen."
"Hm."

Taehyung schaut an sich runter, errötet und stürzt in sein Zimmer. Kurz darauf kommt er mit einem Bündel frischer Kleidung im Arm zurück und rennt ins Bad. Wir hören einen Rasierapparat brummen, die Dusche plätschern, den Fön rauschen. Als sich die Tür vom Bad wieder öffnet, steht vor uns ein gut aussehender schlanker junger Mann mit feuchten, dunklen Locken, einer löcherfreien Jeans und einem sauberen T-Shirt. Seine Schuhe sind mit einer Bürste geschrubbt, ein dünner Pullover ist lässig um seine Schultern geschlungen. Nur seine vor Angst brennenden Augen zeigen, wie es wirklich in ihm aussieht.

Flehend schaut er mich an, räuspert sich, flüstert.
"Könnten ... könnten wir fahren? Bevor ich es mir anders überlege?"
Hoseok legt kumpelhaft einen Arm um seine Schultern und geht einfach mit ihm los.
Kurz, bevor wir bei meinem Auto ankommen, hält Taehyung mir wortlos den Brief und einen Zettel mit der Adresse hin. Kaum habe ich beides gegriffen, fasst er sich an den Magen, würgt und stürzt zum nächsten Gebüsch. Hobi hinterher.
Was für ein Elend!
Ich werfe eine Packung Taschentücher zu Hobi, lasse die beiden allein, gehe schon zum Auto und suche im Navi nach der Adresse.

Käsebleich und verheult kommt Tae zum Auto geschlichen. Ich kann sehen, dass Hobi mitgeweint hat. Und mir geht es nicht anders - ich muss mich selbst sehr beherrschen. Die beiden rutschen auf die Rückbank und halten sich ganz fest an den Händen.
Ich bemühe mich, sehr ruhig, gleichmäßig und konzentriert zu fahren. Seine Eltern wohnen in einem völlig anderen Stadtteil, in dem ich mich nicht auskenne. Als wir uns dem Anfang der Straße nähern, brüllt Tae plötzlich:"Stopp!"
Ich mache fast eine Vollbremsung vor Schreck.
"Äh. Entschuldigung. Könnten Sie hier langsam fahren?"
Ich tuckere im zweiten Gang weiter, bis er mich um eine Ecke dirigiert und bittet, sofort hier zu parken. Ich halte unter den überhängenden Zweigen eines großen Baumes an und mache den Motor aus.

"Mist!"
Mit einem Hechtsprung ist unser aufgeregter Freund im Fußraum des Autos verschwunden. Ich sehe auf. Vom anderen Ende der Straße her kommt uns eine dreiköpfige Gruppe aus Vater, Mutter und wohl großer Tochter entgegen. Sie unterhalten sich, beachten uns gar nicht, biegen zwei Gärten vor uns in eine Einfahrt ab und verschwinden aus unserem Sichtfeld.
Hoseok hilft Taehyung wieder hoch. Der starrt nur auf das nun wieder geschlossene Gartentor.
"Das ... ist meine Familie."

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