64 - das Tagebuch

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So-Ra geht sehr offen mit mir und meinen Flashbacks um. Sie eiert nicht drumrum oder wartet ab. Sie packt wie gewohnt den Stier bei den Hörnern und geht drauflos. Und so wird die Nacht trotz Unterbrechungen erträglich. Als wir viel zu früh endgültig wach werden, macht sie leise Musik an und nimmt mich in die Arme.
"So, Schatzi. Jetzt kuscheln wir noch eine Weile wie verliebte Teenies. Wenn dir Gedanken kommen, sprich sie aus, niemand treibt uns."
Kuscheln wie verliebte Teenies. Stimmt, das haben wir zu Schulzeiten ganz oft gemacht - Jungs durchgeratscht und gekuschelt, Idols angehimmelt und gekuschelt, Vokabeln geübt und gekuschelt, vor Prüfungen auf dem Schulflur gehockt und gekuschelt.
Ich muss kichern.
"Uns war sooo egal, was irgendjemand gedacht oder gesagt hat. Wir hatten uns. Wir waren niemals allein."

"Ganz genau, Sweetie. Jedesmal, wenn ich ach sooo unsterblich und natürlich unerwidert verliebt war, hast du mich getröstet, wenn ich zum Rasenmähen verdonnert wurde, hast du mir geholfen, wenn ich mir die Vokabeln nicht merken konnte, hast du mit mir geübt, wenn ich zum Zahnarzt musste, hast du Händchen gehalten."
"Schätzchen - wann habe ich dir das letzte Mal gesagt, dass du fröhlich, motivierend, anpackend, ehrlich, freigeistig, 100% loyal und überhaupt die wundervollste Frau und Freundin in meinem Leben bist?"

Plötzlich liegt So-Ra ganz still. Ich höre nur ihren Atem und spüre ihre Nähe. Ich überlege, was jetzt in ihrem Kopf vorgeht. Ich muss sehr gut die Ohren spitzen, um schließlich ihre geflüsterte Antwort zu verstehen.
"Schon ganz oft. Aber es ist jedesmal so schön wie beim ersten Mal."
Wieder herrscht Stille.
Was hat sie grade gesagt? Ähm. Cringe ...
Ich drehe mich langsam um. In dem Moment, wo wir uns ins Gesicht sehen können, brechen wir in schallendes Gelächter aus. Und dann sagen wir gleichzeitig: "Sei froh, dass Namjoon das nicht gehört hat. Sonst hättest du jetzt ein Problem."

Entspannt und eingealbert stehen wir eine halbe Stunde später auf und beginnen den Tag. So-Ra wundert sich, dass ich am Adventskranz wieder nur zwei Kerzen anmache. Also erkläre ich ihr das Prinzip. Das Frühstück dauert lange, wir suchen uns einen Weg zum nächsten Supermarkt, um den Kühlschrank aufzufüllen. Netterweise gibt es auf dem Weg dorthin eine Drogerie, in der wir sofort ein paar Bilder von meinem Handy ausdrucken können. Also basteln wir an Onkel Harrys Schreibtisch das kleine Album zusammen, zupfen die kleinen Geschenke zurecht und besuchen Frau Blumenthal. Sie freut sich sehr darüber.

Und dann ist es auf einmal Zeit, zur Anwaltskanzlei aufzubrechen. Mir flattern so die Knie und Hände, dass ich kaum das Taxi rufen kann. So-Ra drückt mich auf einen Stuhl, tippt die Nummer ein, die ich ihr zeige, und hält mir das Handy hin, damit ich wirklich nur selbst reden muss. Dann packt sie vorsorglich Taschentücher ein, schließt hinter mir die Wohnungstür ab, lotst mich geduldig die Treppe runter und schiebt mich schließlich auf die Rückbank des Taxis. Die Adresse bekomme ich grade noch so aus dem Kopf zusammen.
Während wir durch den Berliner Montag Morgen Verkehr gefahren werden, versuche ich, meine Atmung unter Kontrolle zu behalten.
Warum versetzt mich dieses unbekannte 'etwas' eigentlich so sehr in helle Panik? Die Flashbacks, Gespräche und Erkenntnisse der letzten Tage sind doch eigentlich nicht mehr zu toppen. Ich bin nicht allein, der Anwalt hat seine Instruktionen, ich bin alt genug, um Stop zu sagen. Ich verstehe mich selbst überhaupt nicht. ... Hm. Vielleicht macht mich genau das so nervös ...

"Du? Hilf mir doch mal bitte sortieren. Faktencheck. Was kann da jetzt passieren? Ich habe selbst ausdrücklich gefragt, ob es noch etwas gibt. Ich habe selbst entschieden, hierherzukommen. Wovor fürchte ich mich so?"
"Gerne. Dein siebenjähriges Ich hat alle Erinnerungen tief in dir vergraben, um dich zu schützen. Dein dreiunddreißigjähriges Ich ist konfrontiert und herausgefordert worden, hat als Reaktion diese Erinnerungen wieder freigegeben und ist noch dabei. Das alles ist unerwartet, verwirrend und kräftezehrend. Aber: bisher sind die einzigen, beängstigenden Erkenntnisse aus dir selbst heraus gekommen. Weder aus den Briefen und Unterlagen noch von meinen Eltern oder irgendwelchen anderen beteiligten Personen war je irgendein Vorwurf zu hören. Die Ängste, Zweifel, Vorwürfe und quälenden Fragen kommen einzig aus dir selbst heraus. Und deshalb sehe ich auch heute keine Gefahr für dich."

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