Kapitel 4: Nahbar

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   »Du hakst wirklich nicht weiter nach«, murmelt sie leise und ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass sie das bezüglich ihrer Verletzungen gesagt hat – dass mich all das nichts angehe und ich nur ihre Wunden versorgen wolle.

Was ich gerade auch nur tue. Ich stelle keine Fragen, will nichts weiter wissen. Natürlich brennen mir Fragen auf der Zunge. Es erscheint mir nicht normal, dass ihre Haut am Ellbogen aufgeschürft ist, sie alleine in einer dunklen Gasse geweint hat und von ihrem ehrenwerten Freund jegliche Spur fehlt. Einzeln würde ich den Dingen vermutlich keine weitere Beachtung schenken, aber in Kombination...

Mein erster Gedanke ist trotz dieser Gegebenheit gewesen, dass sie mit jemandem aneinandergeraten ist und dabei verletzt worden ist. Wenn ich an die Situation von vor dem Club zurückdenke, würde mich das nicht im Geringsten wundern, aber die Reaktionen dieses Mädchens rücken alles in ein viel ernsteres Licht. Als würde etwas wirklich Beschissenes ablaufen. Wenn es nur das wäre, warum hat sie vorhin so defensiv reagiert? Warum möchte sie nicht darüber sprechen? Weil es ihr peinlich ist? Ihr unangenehm ist? Vielleicht hat sie ja was Dummes gesagt und weiß das und will die Geschichte daher nicht erzählen? Vielleicht ist sie auch zu stolz dafür, um zuzugeben, was passiert ist. Um Blöße zu zeigen.

Also ja, ich würde gerne so vieles fragen, aber keine Frage ist wichtiger als das Wohlergehen eines Menschen.

»Habe ich doch gesagt. Ich lege mich vielleicht mit Leuten an, aber ich bin kein Lügner«, erwidere ich, nachdem ich ihre Wunde mit Desinfektionsmittel gesäubert (woraufhin sie kurz zusammengezuckt und das Gesicht verzogen hat, was ich irgendwie süß fand) und dann bandagiert habe. Es hat sich lediglich um eine oberflächliche Schürfwunde gehandelt. Und trotzdem: Mich lässt der Umstand mit ihrem Freund nicht los.

Vielleicht reagiere ich auch gerade einfach nur über. Nach dem ganzen Schmerz durch Rebecca bin ich vermutlich nur übersensibel, was Beziehungen angeht. Ich sollte wirklich damit aufhören, haltlose Vermutungen aufzustellen, denn jemandem häusliche Gewalt zu unterstellen, ist definitiv nicht ohne. Egal, wie sehr ihr Freund wie ein Arschloch wirkt, meine Gedanken treiben es eine Stufe zu weit. Nicht ohne Beweise. Alles andere wäre nur eine haltlose Vermutung.

Daraufhin schüttelt das Mädchen hektisch den Kopf, als habe sie Angst, dass es so rübergekommen wäre, als würde sie mir so was unterstellen. »Das wollte ich damit nicht sagen, aber-« Ich hebe die Hand, um ihr zu verstehen zu geben, dass mir sehr wohl bewusst ist, was sie meint und sie sich deshalb nicht zu erklären brauche. Daraufhin legt sie den Kopf schief und zieht schmunzelnd die Augenbrauen zusammen. »Du bist wirklich komisch.«

»Es wird nicht besser, je öfter du es erwähnst«, gebe ich trocken zurück.

Sie schüttelt erneut den Kopf, als wäre sie bei mir langsam geübt darin, das zu tun – was mir den fälschlichen Eindruck vermittelt, wir wären uns wieder näher gekommen. »Lass mich ausreden. Ich meine das nicht im schlechten Sinne. Ich mag's. Das zeigt mir, dass man nicht normal sein muss, um einen klasse Charakter zu haben.« Hat sie mir gerade gesagt, dass ich nicht normal bin? Wenn es nicht sowieso nie mein Ziel gewesen ist, in klassische Rollenbilder zu passen, wäre ich bestimmt beleidigt gewesen. Bin ich allerdings nicht. Nicht, wenn es von ihr kommt und es sich wie das Beste anfühlt, was jemand jemals zu mir gesagt hat. Ich bin nicht wie die anderen, aber das ist gut – genau so klang es.

Ich ziehe ungläubig eine Augenbraue empor. »Du gibst mir ein Kompliment? Ich glaub', ich träume.«

»Hey!«, ruft sie mahnend, aber verliert sich selbst in einem Lachen, in das ich mich einklinke, bis das Gelächter schließlich abklingt, »Ich meinte das wirklich ernst. Du bist wirklich nett«, sie zeigt kurz auf mich, ehe sie ihren Arm wieder fallen lässt, »Daher sorry für die unnötigen Umstände. Sowohl jetzt als auch vorhin vor dem Club.«

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