Kapitel 24: Tiefe Wunden

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   Vorsichtig zieht sie ihre Bluse aus, bis sie schließlich in BH vor mir sitzt. Schlagartig halte ich den Atem an, aber nicht, weil mir der Anblick von nackter Haut gefällt, sondern weil sie mir damit ihre gesamte Verletzlichkeit entblößt. Sie zeigt mir die tiefen Wunden ihres Lebens – die Abgründe, die man am liebsten niemandem zeigen möchte. Man will nicht in die Welt hinausschreien, wie beschissen es einem geht. Man möchte lieber erzählen können, wie gut das Leben läuft. Viel zu oft tun wir so, als wären wir jemand, der wir gar nicht sind, weil wir Angst davor haben, die Wahrheit zu zeigen. Wir setzen alle eine Maske auf, weil das viel leichter ist, als zu sagen, was wirklich in einem vorgeht – warum es einem eigentlich nicht gut geht.

Daher bewundere ich Rubys Mut.

»Die sind alle von ihm«, sagt sie nüchtern und sachlich – beinahe so, als würde es sie gar nicht betreffen. Meine Augen gleiten über ihren gesamten Oberkörper und allein die Anzahl an blauen Flecken an ihrem Körper lassen mich erschaudern. Wut kocht hoch und ich balle die Hände zu Fäusten, aber bemühe mich wirklich, die Gefühle weg zu atmen. Jetzt auszurasten, würde zu nichts führen.

Wie kann man das nur überhaupt jemandem antun? Wie kann man das gerade der Person antun, die man liebt und eigentlich beschützen sollte? Wie kann man nur so herzlos sein?

»Als wir anfangs zusammengekommen sind, war er noch ganz anders«, sie zieht sich ihre Bluse unterdessen wieder an, »Viel liebevoller und netter. Seine Vorliebe für Alkohol und Rauchen ist mir da schon bewusst gewesen, aber ich hätte nicht im Ansatz ahnen können, als welche Art von Mann er sich letztlich entpuppen würde. Ich habe mich so sehr in ihm getäuscht, aber ich bin trotzdem bei ihm geblieben. Ich habe wirklich gehofft, dass er sich wieder bessern würde, dass das nur eine Phase sein würde. Irgendwann habe ich sogar geglaubt, dass es an mir liegen würde. Dass ich all das verdient hätte. Dass es meine Schuld wäre, weil ich mich gegen ihn gestellt habe, weil ich nicht seiner Meinung war – weil ich nicht gut genug für ihn gewesen bin. Dabei ging es nie um mich. Das habe ich begriffen. Es ging ihm immer nur darum, seiner Wut freien Lauf zu lassen, ein Ventil zu haben, an dem er die Luft rauslassen könnte. Mittlerweile weiß ich nicht einmal, ob er mich überhaupt jemals geliebt hat oder ob er nicht nur von Anfang an leichte Beute in mir gesehen hat«, sie atmet tief ein und ich sehe ihre Lippen beben, »Ich hab's verstanden. Aber ich weiß trotzdem nicht, was ich machen soll – was das Beste wäre. Ich weiß es einfach nicht.« Eine Stille Träne kullert über ihre Wange, doch ich rühre mich nicht.

Unpopular opinion (und bitte schlag mich nicht): Mir ist Klaus viel zu narzisstisch und rücksichtslos

Wer erdolcht seine Schwester bitte, nur weil sie einmal was tut, was nicht exakt das ist, was man möchte? Das ist lächerlich

Ich komme gerade nicht umhin, mich zu fragen, ob sie ihre Worte damals mit Bedacht gewählt hat. Warum zum Fick habe ich das nicht schon früher bemerkt? Spätestens an dem Abend im Park, als sie mir zum ersten Mal erzählt hat, wie viel Angst sie davor hat, etwas zu tun, was ihm nicht gefallen könnte. Es ist genauso wie bei Rebekah und Klaus. Ruby ist Rebekah. Nur dass sie nicht verwandt sind. Sie muss sich nicht um ihn kümmern, aber sie liebt ihn. Oder hat es zumindest. Genau deshalb bleibt sie wie Rebekah an seiner Seite. Und weil sie keine andere Wahl hat, ohne Tobias zu verärgern. Wie es bei Klaus und Rebekah der Fall gewesen ist, bis Klaus ihr irgendwann die Chance gegeben hat, ein eigenes Leben fernab von ihm zu führen.

Wollte Ruby, dass ihr jemand sagt, dass so was nicht in Ordnung ist? Dass es nicht okay ist, gewalttätig zu werden, egal, welche Vergangenheit man hat? Habe ich ihr damals ernsthaft gesagt, sie solle Tobias verzeihen nur aufgrund seiner Vergangenheit? Falls er denn eine hat.

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